Kapitel 1

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„Was jetzt?", fragte Sam in die Runde. Niemand antwortete.
Der Regen prasselte laut auf das Dachfenster des Quinjets.
Ab und zu donnerte es in der Ferne.
„Was jetzt?", wiederholte Sam seine Frage. Immer noch keine Antwort. Was sollte man auch sagen? Niemand wusste, was jetzt passieren würde.
Alle waren erschöpft von den letzten Wochen. Scott trommelte einen leisen Rhythmus auf seine Knie. Clint sah aus dem Fenster des Jets auf den schier endlosen Ozean, der unter ihnen lag; alle wussten, dass er an seine Familie dachte. Und Wanda starrte einfach nur ihre Füße an, auch sie war in Gedanken.
Sam zuckte mit den Schultern und verdrehte die Augen.
Ihm schienen die zwei Wochen Gefängnis überhaupt nicht zugesetzt zu haben und auch nicht die Tatsache, dass sie gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen waren.
Er durchquerte den Raum und öffnete die Tür zum Cockpit, in dem Steve Rogers hinter dem Steuer saß, den Blick konzentriert auf die Wellen unter ihm gerichtet.
„Was jetzt? Wohin geht's?", fragte er hinein.
„Sharon hat mir Peggys altes Haus angeboten, in New Orleans.", antwortete Steve, ohne sich zu ihm umzudrehen. „Dort können wir unterschlüpfen, sagt sie."
„Das heißt, wir verstecken uns?", fragte Sam. Steve nickte.
Jetzt drehte er sich um und sah ihn an.
„Wir haben keine andere Wahl."

Hinten im Mitfahrerraum war Wanda inzwischen aufgestanden. Sie schlug an die Wand, um die Messingringe, die um ihre Hände herum angebracht waren, zu zerbrechen.
Es waren große, breite Ringe, viel schwerer noch als gewöhnliche Fesseln.
Nur ihr waren diese Ringe angelegt worden. Um ihre Fähigkeiten im Zaum zu halten. Die Ringe scheuerten, und sie konnte ihre Hände weder öffnen noch bewegen.
Frustriert schlug sie immer wieder und mit immer mehr Wucht an die Wand. Sie wollte nichts sehnlicher als sich aus den Ringen zu befreien.
Nach einer Weile gab sie es auf und sank entmutigt auf dem Boden zusammen. Ihr Atem stockte. Verzweifelt begann sie zu schluchzen. Die letzten paar Wochen waren für sie besonders schlimm gewesen. Sie hatten mit Tasern und Elektroschocks und anderen schmerzvollen Methoden versucht, ihre Fähigkeiten zu blockieren, natürlich erfolglos. Nicht die erste und auch nicht die schlimmste Folter in Wandas Leben, aber trotzdem Folter.
Wanda spürte eine Hand auf ihrer Schulter und fuhr herum. Clint. Er hatte sich neben sie gekniet.
"Du darfst nicht aufhören, es zu versuchen, Wanda."
„Ich krieg sie nicht ab.", sagte Wanda außer Atem.
„Doch, das wirst du!", ermutigte Clint sie. „Sieh mich an. Du bist eins der mächtigsten Wesen der Erde. Und das sind zwei kleine Metallbrocken."
Wanda hob den Kopf und sah ihn an. Clint war für sie inzwischen zu einer Art Vaterfigur geworden. Im Gefängnis hatte er ihr gut zugeredet, wenn er sie weinen hörte. Sie wusste, dass er meinte, was er sagte, dass er an sie glaubte. Aber sein guter Zuspruch änderte nichts an diesem Gefühl in ihrem Bauch. Als würde ein Teil von ihr fehlen. Vielleicht hatte sie ihn im Gefängnis gelassen, vielleicht in Nigeria oder in Sokovia. Jedenfalls hatte er eine unantastbare Leere hinterlassen, die ihre Gefühle betäubte - auch den Schmerz.
Clint merkte, dass Wanda abwesend war und drehte ihren Kopf sanft in seine Richtung. „Wir sind in Sicherheit, Wanda. Alles, was du tun musst, ist, dich dich selbst befreien zu lassen."
Wanda nickte. Sie hatte das Gefühl, verstanden zu haben, was er sagen wollte.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, alle ungenutzte Energie aus ihrem Körper in ihre Hände zu leiten.
Nichts passierte. Wanda schüttelte den Kopf.
„Weiter.", sagte Clint.
Wieder sammelte sie die ganze Energie in ihren Händen. Sie begannen, leicht zu zittern, hörten aber gleich wieder auf. Dann zitterten sie wieder, und im nächsten Moment waren sie ruhig. Es wird nicht funktionieren, dachte Wanda, aber dass sie jetzt klein beigab, würde Clint nicht zulassen. Sie kannte ihn.
Also ließ sie die Energie ein weiteres Mal in ihre Hände fließen.
Ein plötzlicher Energiestoß durchfuhr ihren ganzen Körper. Ihre Hände wurden heiß. Wanda schluckte. Sie kannte dieses Gefühl nur zu gut. Schnell versuchte sie, ihre Hände zu bewegen. Natürlich funktionierte das nicht. Sie merkte aber, wie auch die Ringe langsam heiß wurden.
Wieder versuchte sie, ihre Hände zu öffnen. Ohne Erfolg.
„Du schaffst es.", hörte sie Clint sagen, aber ihre ganze Aufmerksamkeit war auf ihre Hände gerichtet.
Sie atmete tief durch und versuchte es erneut. Wieder und wieder und wieder, noch ein Versuch, und noch einer, und auf ein Mal begannen sich Risse im Messing der Ringe zu bilden. Es wurden mehr und größere Risse. Nochmals versuchte Wanda, ihre Hände auszustrecken, und es ertönte ein lautes Klirren, als das Messing an ihren Händen plötzlich in Einzelteile zersprang und in alle Richtungen schoss.
„Aufpassen da hinten!", rief Scott grinsend. Er hatte das Ganze aus sicherer Entfernung beobachtet.
Wanda streckte begeistert ihre Hände. Um ihre Finger herum fluoreszierte das tiefrote Feuer, das sie so gut kannte. Sie hatte ihre Fähigkeiten immer gehasst. Aber jetzt, in diesem Moment, war sie glücklich, sie wiederzuhaben.
Clint lächelte. Es war eine Mischung aus Stolz und Triumph in seinem Lächeln, weil er Recht gehabt hatte. Wanda lächelte schwach zurück.

Einige Stunden später waren sie bei dem Haus von Sharons verstorbener Tante angekommen. Auf dem Weg hatten sie noch Scott und Clint zuhause bei ihren Familien abgesetzt. Wanda wusste, sie würde Clint vermissen, aber zumindest ging es ihm dort gut.
Das Haus war alt, aber trotzdem gemütlich und rustikal. Und der große Garten mit seinen hohen Hecken würde es Wanda erleichtern, den Jungs zu entkommen. Sie lächelte bei dem Gedanken, als sie ihre Sachen ins Haus transportierte. Steve hatte jedem alles nötige aus dem Hauptquartier mitgebracht.

Wanda ließ ihre Tasche auf den Boden fallen. Sie setzte sich auf ihr Bett und sah sich in dem Zimmer um, das sie zugelost bekommen hatte. Es war um einiges besser als die kalte Gefängniszelle. Eigentlich war der Raum sogar sehr schön. Er war groß und hatte ein paar deckenhohe Fenster mit langen, weißen Vorhängen. Auf dem Boden lag ein langer, alter Teppich und an der Decke hing ein silberner Kronleuchter. Manche Möbel sahen fast zu teuer aus, um sie anzufassen.
Das muss Mrs Carters Schlafzimmer gewesen sein, stellte Wanda fest, als sie ein paar schwarz-weiß-Fotografien der jungen Frau auf dem Nachttisch entdeckte.
Steve hatte ihr von Sharons Tante erzählt. Ihr Name war Margaret Carter gewesen, aber alle hatten sie nur Peggy genannt.
Sie waren zusammen in den Zweiten Weltkrieg gezogen und hatten gegen die Tyrannei der Nationalsozialisten gekämpft. Wanda seufzte.
Sie wünschte sich, sie hätte so viel erreicht und so viel für ihr Land getan wie Mrs Carter.
Sie hatte das Gefühl, ein Zimmer wie dieses nicht wert zu sein. Sie war etwas, vor dem die Menschen sich fürchteten.
Sie erhob sich vom Bett und ging hinübrr ins anschließende Bad. Dort betrachtete sie sich im Spiegel. Für gewöhnlich versuchte sie, Spiegel zu meiden, und als sie jetzt hineinsah, erinnerte sie sich, wieso.
Erschrocken sah sie sich an. Sie war mager und blass geworden und hatte tiefe, dunkle Ringe unter den Augen.
Im Gefängnis hatte sie nur selten schlafen können. Nicht nur, weil das Bett hart und unbequem war, nicht nur, weil sie in der engen Zelle immer wieder Platzangst bekam oder weil das Messing an ihren Händen ihr das Blut abzudrücken schien. Auch wegen dieser Leere.
Ihr fehlte etwas, sie wurde das Gefühl nicht los.
Natürlich fehlten so einige Dinge, aber mit diesem hier war es wohl anders.
Es war kostbar. Und sie brauchte es zurück.
Wanda sah ihre Hände an. Die Ringe hatten rote Abdrücke hinterlassen, die immer noch schmerzten. Alles, was sie fühlte, war endloses, taubes Nichts.
Was war das? Was war so wichtig, dass dieser Schmerz keine Rolle für sie spielte?

Westering Home - Wanda's Vision Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt