Kapitel 2

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Vision stand vor einem der Fenster auf dem breiten Gang des Avengers-Hauptquartiers. Nachdenklich sah er hinaus auf die flickenteppichartigen Felder, die das große Gebäude säumten. Geisterhaft schien der Vollmond von einem wolkenfreien nächtlichen Himmel herab. Im Mondlicht wirkte es, als würden die Felder silbern schimmern. Es war ein wundervolles Schauspiel.
Und doch, wie so oft wünschte Vision sich nichts mehr als einschlafen zu können.
Für die Menschen war das mehr eine Redensart, aber nicht für ihn. Er konnte es wirklich nicht, er hatte nicht einmal eine Vorstellung davon, wie sich Schlaf anfühlte. Vision senkte seinen Blick und starrte auf den Boden.
Diese wundersame junge Frau.
Zwei Wochen war sie schon fort. Sie und die anderen Avengers.
Seit dem Beginn seiner Existenz hatte sie ihn beeindruckt. Wozu sie fähig war, die Leichtigkeit, mit der sie ihre Fähigkeiten auszuüben schien und die Art, wie sie auf jede ihrer Emotionen reagierten.
Nachdem er erschaffen worden war, nachdem er verstanden hatte, dass er weder Ultron noch Jarvis war, sondern etwas neues, fremdes, war sie das erste gewesen, was er gesehen hatte.
Sie hatte die Art geprägt, wie er Menschen ansah. Er sah mehr als das Äußere, sah tiefer in die Menschen hinein. Er sah die Verbindung zwischen Geist, Herz und Seele. Und in Wanda hatte er Reinheit, Reue und Angst gesehen.
Aber er war in einen Krieg hineingeboren worden:
kurz darauf war sie mit in die Schlacht in ihre Heimatstadt Sokovia gezogen und hatte dort ihren Bruder verloren. Und diese Schönheit, diese Reinheit, die er in ihr gesehen hatte, sie drang nicht mehr nach außen vor. Wanda hatte sich verschlossen. Es war nicht nur Trauer, vermutlich waren es auch Gewissensbisse, weil sie ihren Bruder hatte retten können, und weil sie  - im Gegensatz zu ihm - am Leben geblieben war.
Wanda hatte ein gutes Herz, das wusste Vision. Aber manchmal hatte sie sich selbst nicht im Griff. Tony hatte oft den Begriff „impulsiv" verwendet.
In ihren ersten paar Monaten hier war öfter darüber nachgedacht worden, sie einzuweisen, weil sie kaum redete, geschweige denn aß, weil sie nachts nur wachlag und weinte oder die Zimmerdecke anschrie. Aber nach einiger Zeit hatte sie den Verlust ihres Bruders verwunden, oder verkraftet. Es schien ihr zumindest besser zu gehen.
Ja, und dann war da dieser Streit.
Im Zuge eines Auftrags in Nigeria hatte Wanda versehentlich ein Hochhaus in Flammen gesetzt, was zu einem Streit führte, der das Team in zwei Lager spaltete.
Das Abkommen, das die Avengers verstaatlichen sollte, um weitere von ihnen ausgehende Gefahren vorzubeugen, wurde nur von der knappen Hälfe des Teams unterzeichnet.
Wanda hatte sich auf die Seite der Freiheit gestellt, die Unterschrift verweigert.
Und bei ihrer Flucht war sie festgenommen worden.
Vision hatte eine gewisse, seltsame Hingabe gehabt für die junge, schüchterne Europäerin.
Er konnte sie sich selbst nicht genau erklären.
Und nun war sie weg - für unabsehbare Zeit.
Es gab viel, was er ihr gerne noch gesagt hätte, denn auch zwischen ihm und ihr hatte ein Streit stattgefunden.
"Wenn du das tust, werden sie nie aufhören, Angst vor dir zu haben.", hatte er ihr gedroht, als sie deutlich machte, dass sie vorhatte zu fliehen.
Ihre Antwort war mehr als klar gewesen. Er erinnerte sich an das Loch, das sie mit ihren Fähigkeiten in den Boden gerissen und durch das sie ihn mehrere Stockwerke tief befördert hatte, mit den Worten: "Ich kann ihre Angst nicht kontrollieren - nur meine eigene."
Für eine kurze Zeitspanne war er Teil dessen geworden, was Ihr Angst machte - und das machte ihm Angst.
Von ihrem aktuellen Aufenthaltsort wusste er nur zwei Dinge - er lag einige tausend Meilen vor der Ostküste und befand sich 375 Meter unter dem Wasser. Kein Entrinnen.
Die genauen Koordinaten waren streng vertraulich. Wandas schlimmste Ängste mussten wahr geworden sein - und Vision sah sich mit in der Schuld.

Westering Home - Wanda's Vision Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt