Kapitel 9

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Gründlich las Vision sich das Rezept ein zweites Mal durch. Und dann ein drittes, denn er kannte nicht alle Begriffe. Backpulver. Margarine.
Er wusste selbst nicht genau, wie er das schaffen sollte, aber er würde es schaffen müssen.
Wanda verdiente es.
Er begann also, sich die Zutaten, die er schon kannte, zusammen zu suchen.
Wenn er den Kuchen überhaupt hinbekäme, wüsste er immer noch nicht, was er ihr schenken sollte. Es durfte nicht irgendwas sein. Es musste sie wirklich glücklich machen.
Er wünschte, er könnte ihr Pietro zurückgeben. Das wäre zweifellos das ideale Geschenk.
Aber ihr Bruder war tot und sie hatte unvorstellbare Dinge erlebt. Nein, er konnte ihr nichts geben, was sie vollkommen glücklich machen würde. Er konnte es nur versuchen.

„Vision? Was machst du da?", fragte plötzlich eine schläfrige Stimme und Natasha betrat die Küche. So schnell wie möglich versuchte Vis, alle Zutaten, die er eben aus dem Schrank geholt hatte, hinter dem Brotkasten verschwinden zu lassen. Dann drehte er sich zu ihr um und stammelte: „Ich koche." Wenig überzeugend.
Nat runzelte die Stirn. „Du isst nicht, Vision, und es ist elf Uhr nachts."
Was hatte er auch erwartet? Es war Natasha's Beruf, andere zu durchschauen. Er holte die Backzutaten wieder hervor. Nat kam etwas näher und grinste.
„Wenn ich nicht schlafen könnte, wär ich vermutlich auch schon Hobbybäckerin.", sagte sie. „Was hast du vor?"
„Eine Überraschung für Wanda.", klärte Vis sie auf. „Sie..." er zögerte. „... behalte das bitte für dich. Sie hatte heute Geburtstag."
„Was?!" Die Kinnlade der Rothaarigen fiel nach unten.
„Wieso hat sie-"
„Sie hat ihn seit elf Jahren nicht gefeiert und möchte keine künstliche Aufmerksamkeit", antwortete Vis, während er die Eierpackung öffnete. Nat sah ihm schmunzelnd bei seiner Arbeit zu. „Du gefällst mir, Vision.", sagte sie schließlich nickend. „Aber du wirst Hilfe gebrauchen."
Sie ging an ihm vorbei und holte einen Messbecher aus dem Küchenschrank, den sie zwischen ihren Händen hin und her wippte. „Es bleibt unter uns.", sagte sie. „Falls sie's nicht schon am Geschmack merkt."
Ein überraschter Vis nickte lächelnd.

So verbrachten die beiden die ganze Nacht damit, ein perfektes Kuchenrezept für Wanda auszuarbeiten und in die Tat umzusetzen. Vis lernte einige neue Backzutaten kennen und Natasha stellte sich als großartige Köchin heraus.
Als es schon langsam dämmerte und der Kuchen endlich im Ofen war, saßen Nat und Vis an der Küchentheke und dachten gemeinsam über die letzte wichtige Frage nach.
„Wie wär's mit Orchideen?", schlug Nat vor.
Vis schüttelte den Kopf. „Wanda mag keine Blumen.", sagte er. „Sie erinnern sie daran, wie vergänglich das Leben ist."
„Ja, das klingt nach ihr.", gab Nat ihm recht.
„Also, schieß los. Worauf steht sie? Du kennst sie ja offenbar besser als ich."
Vis überlegte kurz. „Sie mag alte amerikanische Filme und den Geruch von Zimt. Aber wenn ich ihr etwas schenke, sollte es etwas besonderes sein. Und ich glaube, dass Stoffliches nicht ausreicht, um ihr all die Geburtstagsgeschenke zu geben, die sie nicht bekommen hat."
Nat lächelte. „Vision, willst du meinen Rat?"
Er sah sie fragend an.
„Schenk ihr lieber nichts.
Du bist Geschenk genug."

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