Kapitel 16

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Der kalte Wind und der Stoff ihres Nachthemdes waren alles, was sie spürte.
Keine Wände um sie herum, keine Atemnot, keine Bilder, die sie wünschte, zu vergessen.

Jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt.
Sie fühlte sich, als sei sie gerade erst eingeschlafen und aus einem dieser berühmten Fallträume wieder aufgewacht. Nur hatte sie nicht geträumt.

Sie kannte das Gefühl der Haltlosigkeit, hatte es aber nie als befreiend empfunden.
Mit jeder Sekunde, die verstrich, jedem Schritt, den sie ging, durchdrang sie eine neue, unbekannte Kraft.

Sie blickte in die Dunkelheit und hörte das Rauschen der Wellen und des Windes.
Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt.
Ihre Hand fuhr zu ihrer Stirn, sie war nassgeschwitzt. Hektisch setzte sie sich auf und sah sich nach allen Seiten um. Fenster und Zimmertür waren offen,
die Matratze neben ihr -
leer.

Nat knipste ihr Lämpchen an, zog die Nachttischschublade auf und holte eine Pistole hervor, die sie hinter ihrem Rücken versteckte.
Dann schlich sie auf den Gang hinaus und die Treppe ins Wohnzimmer hinunter.

Wanda war zum Lachen zumute, so frei hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Die kühle Nachtluft streichelte behutsam ihr Gesicht, während sie, ohne zu zögern, einen Fuß vor den anderen setzte.

Im Wohnzimmer angekommen blies Nat ein heftiger Windstoß entgegen. Die Haustür stand sperrangelweit offen. Reflexartig  zog sie die Pistole hervor und trat nach draußen vor die Tür, doch da war keine Menschenseele.
Alles, was sie sah, waren der schwarze Wasserspiegel der See und die Umrisse der Hügel um das Haus herum.
Keine Spur von Wanda.

Plötzlich spürte sie harte Felsbrocken unter ihren Füßen. Und dann Sand, weichen, nasskalten Sand. Eine Stimme sagte ihr, dass jeder weitere Schritt ein großer Fehler war. Aber eine andere, um einiges lautere bestand darauf, dass sie weiter ging.

"Leute, aufwachen! Notsituation!"
Nat knipste das Licht im Schlafzimmer der Jungs an und zog die Vorhänge auf, damit der Vollmond ins Zimmer schien.
Sam rieb sich die Augen und stöhnte genervt.
„Notsituation...", murmelte er, „ist die Erdnussbutter alle? Deine Mitternachtssnacks müssen aufhö..."
Bevor er zu Ende reden konnte, verpasste Nat dem Bettgestell einen heftigen Tritt, sodass es mehrere Sekunden lang wackelte und die Jungs endgültig wach wurden. Erschrocken fuhren sie beide aus dem Bett hoch.
"Es ist Wanda", sagte Nat. "Sie ist weg."

"Wanda?" Steve versuchte, leise zu rufen, um nicht das gesamte Dorf zu wecken. Die drei hatten sich bei der Suche aufgeteilt, Nat suchte im oberen Teil des Dorfes und Sam im Gebirge. Eine gute Dreivertelstunde schon stellten sie die ganze Gegend auf den Kopf, und alle hatten höllische Angst.
Angst um Wanda, Angst, Aufmerksamkeit zu erregen.
Aber aufhören würden sie nicht. Es ging um ein Teammitglied und möglicherweise um mehr.
"Wanda!", rief Steve ein weiteres Mal. "Wanda, hörst du mich?" Gähnende Stille.
„Warum zur Hölle tut sie das?", zischte Steve aufgebracht zu sich selbst und warf den Kopf in den Nacken.
„Ich weigere mich, zu glauben, dass sie abgehauen ist." sagte Nat, die die Straße herunter gelaufen kam. „Ihr muss was passiert sein."
„Du hast also auch nichts?", fragte Steve nach; ein besorgter Ausdruck begann, sich in seinem Gesicht abzuzeichnen.
Nat atmete scharf ein. „Nein. Ich hab bis zum Marktplatz alles abgesucht."
Ein paar Sekunden später kam auch Sam dazu.
„Kein Zeichen von ihr da oben.", berichtete er niedergeschlagen, während die drei zusammen zum Strand hinunterliefen.
Nat war den Tränen nahe, raffte sich aber schnell wieder. „Wir finden sie. Und wenn wir stundenlang suchen müssen."
Steve nickte zustimmend.
"Weit kann sie nicht gekommen sein an einem Ort wie diesem. Die erste Fähre fährt um fünf, sie muss irgendwo hier sein.
Also, lasst uns nachdenken. Das Waldstück, in dem der Jet steht, womöglich hat sie- "
"Leute...", unterbrach Sam ihn mit einem verängstigten Zittern in der Stimme, "da ist jemand im Wasser!"

Westering Home - Wanda's Vision Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt