Kapitel 21

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Vision hatte die Nacht durchgelesen. Eine eher mittelmäßige Lektüre, aber so verging zumindest die Zeit.
Wanda musste erschöpft gewesen sein, denn sie war bald nach dem Tee in einen tiefen Schlaf versunken. Er gönnte es ihr und hütete sich, auch nur zu ihr hinüberzusehen.
Sie brauchte die Erholung.
In den frühen Morgenstunden hatte der Regen nachgelassen und ein dichter Nebel vom Meer aus die Stadt eingehüllt. Nun, da es hell wurde, glänzte der Nebel golden in Kontakt mit Sonnenlicht.
Gegen 9:30 schlummerte Wanda noch immer tief und fest und Vis traf den Entschluss, das Zimmer für einen kleinen Morgenspatziergang zu verlassen.
Er legte Wanda eine Notiz und den Zweitschlüssel auf den Nachttisch und konnte nicht anders, als sie kurz anzusehen. Seitlich, mit dem Kopf auf ihrem ausgestreckten Arm lag sie einer Landschaft aus Kissen und atmete friedlich ein und aus.
Sie war die absolute Ruhe. Es war schwer vorstellbar, dass in dieser Ruhe eine so mächtige Gestalt weilte.
Als Vis die Zimmertür hinter sich abschloss, vernahm er ein Knarren von rechts und die Tür des Nebenzimmers wurde aufgedrückt.
Heraus trat Natasha. Sie trug ein Sportsweatshirt und Leggings und ihr blondes Haar war zu einem tiefen Zopf gebunden.
"Vision.", sagte sie überrascht und blieb im Türrahmen stehen. Zögerlich lächelnd fügte sie an: "Die Jungs sind schon zum Trailrunning an die Küste abgehauen - wo ist Wanda?"
"Liegt noch in den Federn.", teilte Vis ihr mit.
"Hmm. Dann sind es wohl du und ich.", sagte Nat. "Ich wollte das Frühstück testen. Ist es unfair, wenn ich dich mitnehme?"
"Oh, keineswegs.", verneinte Vis.
Einen Abstieg von drei Stockwerken später hatten sie das Hotelrestaurant erreicht.
Ein alteingesessenes schottisches Restaurant mit Blick auf langsam wach werdende Altstadtstraßen.
Natasha rutsche in eine der samtüberzogenen Diner-artigen Sitzecken am Fenster und Vis nahm gegenüber Platz.

Wanda erwachte langsam und spät. Ein heller Rotton füllte ihre geschlossenen Augenlider.
Sie atmete in sich hinein und räkelte sich vorsichtig, bevor sie das Rot verschwinden ließ und erst richtig imstande war, zu erinnern, wo sie sich befand.
Sie rollte sich auf die Seite und griff sich an die Stirn. Sie hatte keinerlei Erinnerung an die vergangene Nacht, aber sie wusste, sie musste wieder geträumt haben. Sie spürte es in ihren pochenden Schläfen und in ihren erschöpften Gliedern.
Ein kleiner quadratischer Notizblockzettel geriet in ihr Blickfeld. Er lag sichtbar positioniert auf dem Nachttisch. Sie griff danach und las.

Ich mache einen Spaziergang - bin bald zurück.
-V

stand in einer sehr sauberen Handschrift auf dem Zettel. Wanda fuhr die Buchstaben sanft mit der Fingerkuppe nach.
Dann legte sie den Zettel beiseite und machte sich daran, sich anzuziehen. Ein paar Züge mit dem Kamm durch ihre neuen rotblonden Haare später stand sie in schlichter Kleidung da und besah ihr Spiegelbild.
Der Stress der vergangenen Monate sprach aus dem Spiegel. Sie fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, rieb sich die Augen, um wach zu werden, sah der jungen Frau im Spiegel ermutigend entgegen.
Diese Woche war für sie.
Zeit, ein wenig egoistisch zu sein.

"Also, Weihnachten steht kurz bevor, wie sind wir geschenkemäßig aufgestellt?", fragte Nat zwischen zwei vollen Gabeln Hotelrührei.
"Ob du es glaubst oder nicht, ich habe diesmal Vorkehrungen getroffen.", antwortete Vis ein bisschen stolz.
"Na, immerhin einer von uns.", gab Nat zurück.
"Wir sind in Bowmore wirklich versauert. Wir betreten nur Geschäfte, die unser Überleben sichern. Ist echt spartanisch."
"Verzicht kann die Welt verbessern.", fand Vis.
"Diesen Anspruch haben wir schon lange aufgegeben.", sagte Nat melancholisch lächelnd. "Lass uns nachher einkaufen gehen."
Vis hob zustimmend die Tasse Kaffee, die er sich aus Gründen der Anpassung bestellt hatte.
Die beiden stießen gerade auf das geplante Vorhaben an, als sich Wanda der Sitzecke näherte.
Sie blieb auf halbem Weg stehen und sah die beiden verwirrt an. Fast wirkte sie ein wenig verletzt.
Erst, als Nat sie einladend herbeiwinkte, kam sie näher und Vis rutschte ein Stück beiseite, um ihr neben ihm Platz zu machen.
Sie zögerte kurz, bevor sie sich setzte und blieb einen Moment lang still.
Im Laufe des Frühstücks gesellten sich die zwei vom Joggen ausgepowerten Jungs zu den dreien und verschlangen üppige Menüs.
Es wurde viel über dies und jenes geplaudert und das unangenehme Ereignis von eben geriet zunehmend in den Hintergrund.
Wanda schien ein wenig lockerer, als Steve und Sam hinzu kamen und beteiligte sich rege am Gespräch. Bemerkbar war jedoch, dass sie zu Nat und auch zu Vis, der neben ihr saß, einen gewissen Abstand zu wahren versuchte.

Wenig später waren sie unterwegs in der Fußgängerzone auf der Royal Mile, auf der sie an diesem sonnigen Wintertag nicht die einzigen waren. Zwei Tage vor Weihnachten war dies der prädestinierte Tag, um letzte Einkäufe zu erledigen. Die vier Flüchtlinge waren überwältigt von der Menge an Menschen, die um sie herumwuselte und den schier unzähligen Geschäften rechts und links der breiten Straße, die einen großen Hügel hinaufführte. Vis schien als einziger wirklich die Fassung bewahrt zu haben, die vier anderen bestaunten das Überangebot der Innenstadt und den Trubel der menschlichen Zivilisation.

"Dir ist klar, dass er in mich reingelaufen ist?", fragte Nat Wanda von hinten, während diese das Bücherregal musterte. Die fünf befanden sich in einem gemütlichen älteren Bücherladen und sahen sich um. Bis vor Kurzem hatte Wanda sich in der Klassiker-Abteilung allein geglaubt.
Sie wendete sich Nat zu. "Es war reiner Zufall.", sagte diese nun.
"Spielt das eine Rolle?", fragte Wanda angenervt.
"Für dich scheinbar schon." Nat sah sie ernst an und griff vorsichtig nach ihrem Oberarm, um sie vom Gehen abzuhalten. Wanda blieb etwas widerwillig stehen.
"Es tut mir leid.", sagte Nat. Ihr Blick hatte etwas flehendes. Sie schien die neu gewonnene Freundschaft wirklich nicht aufs Spiel setzen zu wollen.
Wandas Gesichtszüge wurden weicher, als sie die Ernsthaftigkeit der Entschuldigung erkannte.
Sie biss sich verlegen auf die Lippe.
"Das mit dem Vertrauen mache ich nicht besonders gut, oder?", sagte sie zaghaft.
"Ich auch nicht.", gab Nat zu. "Aber ich möchte mir dein Vertrauen verdienen." Mit einem Blick über die Schulter hinüber zu Vis, der einige Meter entfernt in einem Sachbuch blätterte, fügte sie an: "Und er auch."
Wanda nickte nachdenklich. Dann fasste sie sich ein Herz und lief an Nat vorbei zu ihm hinüber.
Er sah von dem Werk auf und klappte es zu, als er sie kommen sah. Sie blieb unmittelbar vor ihm stehen und kam erst dann dazu, sich ihre Worte zurechtzulegen. Ihre Gedanken begannen zu rasen und es sprudelte etwas anderes aus ihr heraus als geplant: "Ein halbes Jahr habe ich mir das gewünscht", sagte sie leise, "und jetzt vermassle ich es, nicht wahr?"
"Nein.", entgegnete Vis. "Das tust du nicht, nicht im Geringsten." Er trat etwas näher.
"Bitte verzeih mir das Missverständnis heute morgen.", bat er sie mit ernster Miene, ein bedauernder Unterton schwang mit.
Wanda sah ihm tief in die türkisblauen Augen.
Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen sagte sie, gerade noch laut genug, damit er es verstand:
"Es gibt nichts zu verzeihen."
Ein sichtlich erleichterter Vis zog sie sanft an sich und legte seine Arme um sie. Wandas Magen begann zu kribbeln. Es war das erste Mal, dass er sie von sich aus berührte.
Sie legte ihren Kopf an seine Brust und gab sich der Umarmung hin. Sie war eine andere als jene vom gestrigen Wiedersehen - sie war unvorhersehbarer und enger.
Wanda spürte seine Hand auf ihrer Schulter ruhen und seine Fingerkuppe kleine streichelnde Kreise ziehen, die sie etwas durcheinanderbrachten.
Das war Zärtlichkeit. Ein menschlicher Code.
Er war nicht menschlich... woher kannte er also dieses Spiel?
Sie brachte ihre Gedanken zum Schweigen und antwortete, indem sie eine ihrer Hände aufwärts wandern ließ - von seinem Nacken in sein Haar, behutsam, um nicht zu schnell zu weit zu gehen.
Länger schon hatte sie darüber nachgedacht, ihn auf diese Weise zu berühren. Hatte nicht gewusst, ob es möglich war, ob er es verstehen konnte. Sie wollte es herausfinden.
Noch immer verharrte sie in der Umarmung und fuhr in sein Haar, um das weiche Gefühl zu erkunden. Es ließ Sekunden wie in Zeitlupe vergehen.
Wanda schloss die Augen und atmete gelöst aus.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 23 ⏰

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