Kapitel 15

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Stan Lee. 1922-2018.
Rest in peace, legend. Excelsior!

"Bereit?", fragte Steve.
Wanda schüttelte den Kopf.
Die beiden standen auf der Wiese vor dem Haus, die Mittagssonne stand am Himmel und es wehte ein kühler Herbstwind.
Sechs Monate versteckten sie sich schon in Schottland, und das laute Rauschen der Meeresbrandung klang inzwischen fast mechanisch in ihren Ohren.
Aus einer Laune heraus hatten die vier an diesem Mittag beschlossen, für den Fall etwas zu trainieren. Ein paar Kilometer die Küste hinunter testeten Sam und Nat neue Nahkampftaktiken.
Steve und Wanda hatten ein anderes, besonderes Ziel.
Seit gut zwei Wochen arbeiteten sie täglich darauf hin.
Sie hatte mit dem Bewegen von Baumstämmen angefangen, dann hatte sie Steve telekinetisch über kleine Gräben und Bäche transportiert.
Auch Büsche und kleine Bäume und selbst die Dünen vor dem Haus waren keine Herausforderung gewesen. Jetzt aber würde es schwieriger werden.
Mit roter Farbe hatten sie hinter dem Haus einen Kreis ins Gras gemalt. Wanda sollte Steve mit Hilfe ihrer Kräfte über das Haus tragen und ihn dort hineinlegen.
Sie selbst hielt diese Idee für viel zu riskant. Zwar hatte sie Steve schon oft und viel weiter getragen, aber sie war aus der Übung.
"Das war eine schlechte Idee.", sagte sie zögerlich, "Das letzte Mal ist zu lange her."
"Telekinese verlernt man nicht", widersprach Steve ihr. "Und schon gar nicht du. Du hast es im Blut."
Er schien Vertrauen in sie zu haben und das machte ihr etwas Mut.
Nach kurzem Überlegen nickte sie und beide gingen auf ihre Positionen.
"Viel Glück.", rief Steve. Er wirkte ziemlich überzeugt davon, dass alles reibungslos ablaufen würde.
Wanda richtete beide Hände auf ihn und begann, ihre Kräfte fließen zu lassen. Die roten Strömungen erfassten und unwoben den Captain schnell. Dann hob sie ihn vorsichtig in die Höhe.
Es lief überraschend gut, Steve blieb stabil und konnte zügig immer höher gehoben werden.
Wandas Arme schmerzten, schließlich trug sie das ganze Gewicht eines Menschen, aber erträglich war es.
Mit kleinen feinfühligen Handbewegungen beförderte sie ihn langsam über das Hausdach und vergaß dabei in ihrer Konzentration fast, wie anstrengend es eigentlich war.
Als Steve beinahe die Rückseite des Hauses erreicht hatte, fingen ihre Hände plötzlich an, zu zittern. Steve taumelte etwas in der Luft.
Lass den Geist klar wie Glas werden, sprach sie sich innerlich zu. Es war ein Mantra, das sie öfter erfolgreich verwendet hatte.
Aber diesmal half es nichts, Steve schwankte bereits gefährlich auf und ab.
Zahllose Bilder tauchten in ihrem Kopf auf.
Bilder von Pietro, von zerstörten Straßen, weinenden Kindern und einem Hochhaus, das in Flammen stand.
Und Bilder von ihm. Vision.
Mit seinem Bild kehrte der entsetzliche Kopfschmerz wieder. Wanda verzerrte das Gesicht.
Sie wollte, dass dieser Gedanke verschwand.
Aber was sie wollte, spielte keine Rolle. So schnell, wie er aufgetaucht war, brannte er sich ihn in ihren Kopf.
Sie sah Vision klar und deutlich vor sich. Er war so wundervoll.
Sie wusste, er war eine Illusion, die schnellstmöglich verschwinden musste.
Aber er wirkte so wahrhaftig, als könnte sie ihn berühren. Also streckte sie ihre Hand nach ihm aus. Er nahm sie nicht.
Es tut mir leid, hörte sie seine Stimme verschwommen sagen. Es ist wie ich sagte, eine Katastrophe...
Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Das letzte, was sie hörte, war ein verzweifelter Schrei.

Als sie die Augen aufschlug, blickte sie an die hölzerne Zimmerdecke. Sie lag auf einem der Sofas im Wohnzimmer.
Ihr Blick schweifte im Raum umher und sie entdeckte Steve, der auf dem Sofa gegenüber lag. Er hatte einen Kühlbeutel auf der Stirn und seine Augen waren geschlossen.
Als sie versuchte, sich hinzusetzen, begann ihr Kopf gewaltig zu pochen. Mit einem Stöhen fiel sie zurück in die Sofakissen.
"Du bist wach!" Eine überraschte Nat beugte sich über sie.
"Wie lange war ich...?", fragte Wanda etwas heiser. "Um die zwei Stunden.", antwortete Nat.
"Geht es Steve-"
"Ihm geht's gut. Er hat nur n'e Wunde am Kopf und ist bewusstlos.
Könnt froh sein, dass das alles ist, ihr Genies. Was macht ihr nur für Sachen?"
Diese Frage stellte sich auch Wanda. Als Nat den Tee holen wollte, der in der Küche kochte, griff sie nach ihrem Arm.
"Was hab ich getan?", wollte sie leise wissen.
„Lass uns darüber später sprechen. Es ist besser, wenn du dich jetzt erstmal ausruhst.", fand Nat.
"Bitte..." Wandas Unterlippe zitterte vor Angst.
Nat seufzte und sah ihr ins Gesicht.
"Du... du hast ihn scheinbar durch die Luft geschleudert. Wir haben ihn bewusstlos oben im Gebirge gefunden."
Als sie das hörte, schnappte Wanda nach Luft und schlug sich mit der Hand vor den Mund,
beinahe hätte sie aufgeschrien.
Steve hatte an sie geglaubt. Daran, dass sie nicht das war, wofür man sie hielt. Und er hatte den Preis dafür gezahlt.
Sie hatte versagt.
Sie war kein Avenger.
Mit Tränen in den Augen stand sie vom Sofa auf, ignorierte die Kopfschmerzen und lief aus dem Zimmer.

"Wanda!", rief Nat ihr hinterher, während sie ihr durch die Dünen zum Strand hinunter folgte. Die See tobte stürmisch und der Himmel war voller dichter grauer Wolken.
Wanda rannte, so schnell es ihr der Gegenwind ermöglichte. Sie wollte nicht reden, nicht zuhören. Sie wollte nur allein sein.
"Wanda!", rief Nat wieder von hinten. "Wanda, Warte!"
Sie dachte nicht daran, sie rannte noch schneller. Langsam verließen ihre Kräfte sie und die Kopfschmerzen wurden schlimmer, aber sie rannte weiter. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
Schließlich ging ihr die Puste aus und sie sank im kalten Sand zusammen.
Erschöpft kam Nat ein wenig später angerannt. Sie setzte sich neben Wanda, diese schwieg und würdigte sie keines Blickes.
Nach einer Weile legte Nat ihr die Hand auf den Arm, aber sie stieß sie weg.
Mit panischen, immer ungleichmäßiger werdenden Atemzügen warf sie ihr Gesicht in ihre Hände und fing an zu weinen.
Ihr stieg auf einmal alles zu Kopf.
"Warum tun wir so, als sei alles in Ordnung?", sagte sie leise in Tränen aufgelöst.
Sie fuhr sich mit der Hand über das tränenverschmierte Gesicht und stieß einen verärgerten Schluchzer aus.
"Hey. Hey! Reiß dich zusammen!", rief Nat. „Steve ist beinahe unversehrt. Wir sind Krieger, solche Unfälle passieren!"
Wanda schluchzte weiter in ihre Handflächen. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
Nat konnte nicht tatenlos mit ansehen, wie sie in Selbstmitleid versank.
War es Selbstmitleid? Sie wusste es nicht.
Aber wann wusste man schon, was Wanda hatte. Sie sollte nur aufhören, zu weinen.
Mit einem beruhigenden „Es ist doch alles gut." packte sie sie am Handgelenk und zog sie in ihre Arme. Diesmal wehrte Wanda sich nicht, sondern ließ ihre Stirn auf Nats Schulter ruhen.
Eine Zeit lang saßen die beiden so da und starrten auf das Meer hinaus. Nat fuhr Wanda beschwichtigend durch die braunen Haare.
Die Sonne verschwand langsam am Horizont in der Tiefe des Blaus.
Als es kühl wurde, beschlossen sie, zurück zur Hütte zu laufen und Nat half Wanda auf. Auf dem Rückweg sagte keine von beiden etwas und das war gut so.
Sie hatten ihre Hütte schon beinahe erreicht, da kamen ihnen Steve und Sam entgegen, sie hatten wohl nach ihnen gesucht.
Hastig wischte Wanda alles weg, was darauf hindeutete, dass sie geweint hatte.
"Geht's dir wieder gut, du Irrer?", fragte Nat Steve. Er nickte mit einem müden Schmunzeln. "Ging mir nie besser." An Wanda gerichtet fügte er hinzu: „Hey. Mach dir keine Vorwürfe.
Dass die Übung fehlgeschlagen ist, war meine Schuld. Du hast dich nicht bereit gefühlt, ich hätte dich nicht unter Druck setzten dürfen."
„Lass das, mir tut es leid." sagte Wanda betreten. Sie unterdrückte das Bedürfnis, ihn anzuschreien.
„Wo habt ihr zwei denn gesteckt?", fragte Sam nach.
„Oh, wir waren spatzieren. Das haben wir gebraucht nach all dem Stress!" Nat war eine wirklich überzeugende Lügnerin und zum Glück ritten die Jungs auch nicht weiter darauf herum.
"Wer hat Lust auf Pizza?", schlug Sam stattdessen vor, und sofort schnellten drei Hände in die Höhe.
Während sie alle das letzte Stück Strand und die Dünen hinaufliefen, disktuierten Nat und die Jungs darüber, welchen Film sie beim Essen schauen sollten. Auf der Türschwelle hatten sie sich geeinigt: es würde ein Marathon stattfinden.
Wanda aß nur ein paar Stücke Pizza und beschloss, sofort ins Bett zu gehen.
Immer noch in ihren Trainingssachen kroch sie unter die Bettdecke, vergrub den Kopf unter ihren Kissen und genoss es, niemanden sehen und nicht reden zu müssen.
Desozialiserung vom Feinsten. Es fehlte noch, dass sie sich einschloss und schrie, bis ihre Stimme weg war, wie in den guten alten Zeiten. Aber dafür war sie zu müde.
Schon wenig später schlief sie ein.

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