Kapitel 20

60 4 0
                                    

Sie mussten die 5-Uhr-Fähre nehmen, die allererste, die an jenem Dezembermorgen von Port Ellen abfuhr, um sich fremden Blicken so gut es ging zu entziehen. Es war dunkel, stockdunkel, und ein eisiger Sturmwind biss ihnen auf der Haut, als sie in einem fast unheimlich anzusehenden Gänsemarsch und streng angeordnetem Schweigen über die mit Raureif bedeckte Wiese stapften.
Der Fußweg bis ins Dorf und hinunter zum Hafen dauerte etwa 45 Minuten, aber ein anderes Transportmittel als ihre Beine war für die vier undenkbar. Die Lage war ohnehin viel zu riskant als dass sich auch nur einer über den Weg oder die Kälte beschwert hätte.
Tatsächlich waren die Exilierten erleichtert, dass sie zumindest für diese eine Weihnachtswoche etwas anderes als weiße Häuser und Berge über der tosenden See zu sehen bekommen würden.
Lediglich Steve bereitete der Gedanke, das Ferienhaus eine ganze Woche lang unbeaufsichtigt zu lassen, großes Unbehagen.
Er hoffte nur, dass seinen Kameraden bewusst war, wie viel hier auf dem Spiel stand.
Um viertel vor fünf näherten sie sich der kleinen Fährstation. Es hingen dichte Nebelschwaden über dem Meer, die den Blick hinüber aufs Festland fast unmöglich machten.
Sam entwischte ein leises Gähnen. Immerhin waren die vier schon seit drei Uhr auf den Beinen.
Gewisse Vorkehrungen waren für den Aufenthalt getroffen, Verhaltensregeln aufgestellt worden. Steve war bei Angelegenheiten der Sicherheit nicht gerade zimperlich.
Es war das erste Mal seit einem halben Jahr, dass sich die vier desertierten Avengers aus ihrer Höhle herauswagen würden. Die Reise war genauestens strukturiert. Nichts durfte schiefgehen, das war allen klar.
„Eine Sache beunruhigt mich.", äußerte Sam, um die Stille zu brechen, die beim Warten auf die Fähre herrschte. Glücklicherweise waren sie so früh morgens die einzigen.
Die vier saßen auf ihren Koffern, sie alle waren hundemüde und durch und durch verfroren. Von Weitem erweckten sie den Eindruck einer abreisenden Familie.
„Nur eine?", fragte Steve grinsend mit einem gestressten Unterton in seiner Stimme.
Darauf nickte Sam, „Dass ich den Anzug nicht dabei habe."
"Du armer, armer Mann.", nuschelte Steve zurück. Er gab sich nach Möglichkeit ruhig, schien seine Füße aber kaum stillhalten zu können vor Nervosität.
„Ich mein ja nur.", fuhr Sam fort, "das Wasser hier hat Temperaturen im Negativbereich. Ich spring da nicht rein, wenn wir auf der Fähre enttarnt werden."
Nat konnte darauf nur die Augen rollen.
"Wilson, deine charmante Art, uns zahlreiche Szenarien auszumalen in allen Ehren, aber unser Captain hier macht sich wirklich schon genug Sorgen.", murmelte sie halblaut. Ihre Augen wanderten zu Steve, der sich angespannt durch seinen Bart fuhr.
"Ihr etwa nicht?", fragte er die drei anderen mit einer gefassten Fassungslosigkeit.  
"Was man nicht hat, kann man nicht verlieren.", sagte Nat. "Wir haben absolut gar nichts. Und wir sind verdammt gut darin, dieses Nichts zu verteidigen." Die letzten paar Worte gähnte sie leise in ihre Handfäche und hauchte dabei eine kalte, weiße Atemwolke in die Luft. Lächelnd scherzte Sam: „Du hättest der Welt einen Gefallen tun und Philosophin werden sollen."

An das Gefühl, als die Fähre ablegte, würde sich Wanda noch ewig erinnern. Es war ein plötzlicher Schub der endlosen Ausgeglichenheit, als sei sie dabei, einen verlorenen Teil von sich zurückzugewinnen.
Ein erwartungsvolles Kribbeln machte sich in ihrem Magen breit, während sie Port Ellen immer kleiner werden und im Nebel verschwinden sah. Die vier Kameraden standen über die Reling gebeugt am hinteren Ende des Decks und blickten in Stille hinab.
Zwanzig Meter unter ihnen kräuselte sich das Spiegelbild eines vollen Mondes im Meer.
Wanda verschränkte die Arme und schloss einen Moment lang die Augen. Die salzige Luft ließ sie gleichmäßig ein- und ausströmen.
Neumond. Das bedeutete Neuanfang, Ordnung der Gedanken und die Möglichkeit, sich Ziele zu setzen. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit war sie sich sicher, auf dem richtigen Weg zum richtigen Ziel zu sein.
Die Stimme, seine Stimme, die in Gedanken zu ihr sprach, klang nicht länger bedrohlich. Er sprach nicht mehr von Katastrophen. Stattdessen hörte sie einen einfachen Satz, den er vor langer Zeit zu ihr gesagt hatte: "Sieh jetzt hin."
Die Bitte an sie, in seinen Kopf hineinzusehen, als er gerade fünf Minuten alt war. Das sofortige Bedürfnis nach dem Vertrauen eines Menschen, den er damals kaum kannte, all das gab ihr zu Denken.
Die Bedeutung dieser drei Worte musste sich gewandelt haben. Von "sieh jetzt hin und sag mir, ob ich der bin, für den ihr mich haltet" zu "sieh jetzt hin, nutze diese Zeit und sei bei mir."
„Das werde ich.", hörte Wanda ihre innere Stimme flüstern. Ihr Herz begann bis in den Hals zu klopfen.

Westering Home - Wanda's Vision Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt