Kapitel 5

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Ein paar Stunden später saßen Wanda, Steve und Sam erwartungsvoll um den Tisch im Wohnzimmer herum. Jeden Moment könnte es an der Tür klingeln. Wanda drückte immerzu die Finger ihrer linken Hand, woran Steve merkte, wie aufgeregt sie war. Er lächelte ihr aufmunternd zu. Sie versuchte so gut es ging, zurück zu lächeln, aber es gelang ihr nicht wirklich.
Jede Sekunde, die verging, kam ihr wie eine Ewigkeit vor.
Mit jedem weiteren Ticken von Margaret Carters alter Wanduhr wurde die Stimmung angespannter. Und dann klingelte es.
Fast zeitgleich standen die drei vom Tisch auf und gingen zur Tür. Wandas Herz begann zu rasen. Es war so weit.
Als sie vor der Tür standen, sahen sie sich an und nickten einander noch einmal zu. Dann öffnete Steve die Tür.

Zu ihrer Überraschung stand nur Tony allein auf der Türschwelle. Er war spießig angezogen wie immer, er trug einen marineblauen Anzug und eine gestreifte Krawatte. Sein weißer Sportwagen parkte direkt vor dem Haus auf dem Rasen.
„Hallo, Tony.", sagte Steve. Wanda und Sam schwiegen, sie fühlten sich nicht verpflichtet, ihn zu begrüßen.
„Cap.", grüßte Tony zurück.
Steve machte Platz, damit er hereinkommen konnte. Während Tony eintrat, nickte er Sam kurz zu. Wanda sah er nicht einmal an, und das störte sie auch nicht.
Er zog sein Jackett aus, hängte es über einen der Stühle am Esstisch und setzte sich, als ob es sein Zuhause wäre.
Steve und Sam setzten sich ebenfalls an den Tisch, Wanda blieb skeptisch an der Eingangstür stehen.
„Der Rest kommt mit Rhodey's Auto nach.", murmelte Tony, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Ich schätze, sie haben mich auf dem Highway verloren."
Eine Weile lang herrschte betretenes Schweigen. Niemand wusste, was er sagen sollte.
Dann sagte Tony, sich belustigt im Zimmer umblickend: „Also... hier seid ihr gewesen, die letzten paar Monate?" Er wandte sich an Steve. „Du weißt, ihr könntet es besser haben. Lächerlich viel bessser."
Er schien seine kleine Spielerei in vollen Zügen zu genießen.
„Tony.", sagte Steve betont genervt.
„Oh, richtig, tut mir Leid. Lasst uns zum Wesentlichen kommen."
Tony hob seine Hände, wie, um sich zu verteidigen.
„Reden wir über... den Streit... den Unfall, den unser Streit zur Ursache hatte."
Jetzt drehte er sich zu Wanda um und sah sie zum ersten Mal richtig an. „Das Lagos-Versehen. Möchte die Verantwortliche... die Protagonistin dieser schönen Geschichte, sich zu uns gesellen?" Er machte eine einladende Handbewegung.
Wanda blieb stehen und verschränkte verbissen die Arme. Sie dachte gar nicht daran, sich hinzusetzen.
„Meinen Respekt.", sagte Tony. „Du hast immer noch ziemlich viel Stolz. Ich meine... dafür, was du alles angerichtet hast."
„Tony.", wiederholte Steve, jetzt etwas lauter. „Deshalb bist du nicht hier." Wieder wurde einige Zeit geschwiegen.
Dann ergriff Tony erneut das Wort:
„Ich beschuldige nicht dich allein, Wanda. Aber wir alle erfahren gerade, was deine Taten zur Folge haben können. Du solltest dich besser zu kontrollieren wissen." Wanda erwiderte nichts. Sie wusste, er sagte die Wahrheit.
„Darum geht es jetzt nicht", versuchte Steve, ihn zu beschwichtigen. „Es geht darum, was in nächster Zeit passieren soll."
„Merkt ihr denn nicht, dass es ihr gleichgültig zu sein scheint, wie viele Zivilisten ihretwegen noch zu Schaden kommen?", sagte Tony laut. „Dass sie sich nicht einmal fähig zeigt, Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen?
Von euch wird es ihr niemand sagen. Diese Dinge, die du tun kannst, Wanda, sind gefährlich!"
„Tony!", rief Steve und stand auf. „Es hat keinen Sinn, darüber zu sprechen!"
"Und nicht darüber zu sprechen, gefährdet die ganze Welt." Jetzt war Tony auch aufgestanden.
„Hör doch auf, nichts als das Waisenkind in ihr zu sehen, Steve! Sie ist kein Kind! Und wenn, soll sie verdammt noch mal erwachsen werden! Das hier ist kein Job für Kinder!"
„Du, Tony.", meldete Sam sich zu Wort und stand ebenfalls auf. „Du solltest erwachsen werden. Wir haben wichtige Dinge zu besprechen!"
„Zum Beispiel, wann ihr zurück ins Hauptquartier kommen könnt? Nicht zu bald, das kann ich euch versprechen!", rief Tony.
Wanda verfolgte den Streit angespannt, wollte sich aber nicht einmischen, weil sie zu ihrem eigenen Entsetzen nichts zu ihrer Verteidigung zu sagen hatte. Genau das, wovor sie am Meisten Angst gehabt hatte, war eingetreten.
Wie hatten sie auch denken können, dass man mit Tony Frieden schließen könnte.
Plötzlich fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Kopf. Wanda drückte sich eine Hand auf die Stirn, aber die anderen diskutierten weiter, ohne es zu bemerken.
Er war da. Vision war da. Sie spürte, dass er in der Nähe war. Vorsichtig sah sie aus dem Fenster des Wohnzimmers.
Tatsächlich. Er stand draußen vor dem Haus. Gerade war er dabei, eine große Tasche aus dem Kofferraum von Rhodeys schwarzem Fiat zu holen. Wie in Trance starrte Wanda ihn an.
Während Steve, Sam und Tony weiterhin diskutierten, umfasste sie die Türklinke und als sie sie herunterdrücken wollte, klingelte es.
Die drei Männer hörten überrumpelt auf zu streiten und liefen ebenfalls zur Tür. Diesmal war es Wanda, die öffnete.
Und da standen sie.
Rhodey stützte sich mit einem Arm auf Vis, mit dem anderen auf eine Krücke. Seine Beine steckten in zwei großen Metallschienen, in denen das Gehen wohl ziemlich schwer fiel. Wanda fing Visions Blick in ihren und lächelte ihm zu, bekam aber kein Lächeln zurück. Vermutlich hatte er immer noch ein schlechtes Gewissen wegen Rhodeys Unfall.
Natasha hatte die große Tasche unter dem Arm und sah übermüdet aus. Als sie die anderen sah, hellte ihr Gesicht sich etwas auf. Sie stellte die Tasche ab und umarmte zuerst Steve und Sam mit einem herzlichen Lächeln. Dann sah sie Wanda an und trat auf sie zu.
Wanda wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte. Unsicher starrte sie abwechselnd Natasha und dann den Boden an.
„Nat... ", fing sie schließlich leise an, aber bevor sie irgendetwas anderes sagen konnte, hatte Nat auch sie in den Arm genommen.
Wanda war etwas überrascht, dennoch erwiderte sie die Umarmung, die sich wie ein schwesterliches Wiedersehen anfühlte.
Dann winkte Steve die drei hinein und sie folgten ihm nach drinnen.
Im Wohnzimmer ließ Rhodey sich mit Visions Hilfe auf einem der Sofas nieder. Nat ließ die Tasche fallen und setzte sich neben ihn, alle anderen nahmen auf den übrigen Sofas Platz. „Darf ich?", fragte Vision mit Blick auf den freien Platz neben Wanda. Sie verkniff sich ein Lächeln. Nein, er hatte sich kein Bisschen verändert. Jeder andere hätte sich einfach hingesetzt. Das war eines der Dinge, ihr ihr an ihm so gefielen. Diese Menschlichkeit, wie sie für alle Menschen selbstverständlich sein sollte.
Sie nickte und er setzte sich. Als alle saßen, ergriff Steve das Wort. „Also, hier wären wir.", sagte er in die Runde.
Dann übernahm Tony: „Ich hatte ja bereits die Gelegenheit, mich mit dem Cap über gewisse Dinge auszutauschen."
Gewisse Dinge. Wanda hätte am Liebsten laut losgelacht.
„Aber jetzt möchte ich noch einmal offen meinen großen Respekt dafür aufbringen, dass ihr es lebend aus einem Unterwasser- Hochsicherheitstrakt geschafft habt."
Er lehnte sich zurück, als sei sein Tagwerk jetzt getan.
„Wie auch immer, lass uns über die Zukunft reden.", sagte Sam.
„Die Zukunft... richtig, was das betrifft..." Tony warf einen eindrucksvollen Blick in die Runde. „...ich habe beschlossen, mich für eine Weile von diesem Team zu distanzieren."
Alle, sogar Wanda, sahen ihn überrascht an. Damit hatte niemand gerechnet.
„Was meinst du damit, distanzieren?", fragte Nat verwirrt.
„Meine Unterstützung habt ihr, aber ansonsten halte ich mich aus euren Angelegenheiten weitestgehend heraus.", antwortete Tony. „Ich ziehe mich zurück, ist vermutlich am Besten so."
„In Ordnung.", sagte Steve. Ein paar andere nickten.
Alle wussten, dass es am Besten war, auf das Thema nicht weiter einzugehen und Tony nicht nach seinem Grund zu fragen.
Wahrscheinlich war es wegen Pepper.
„Die Frage ist, was wir jetzt tun.", sagte Sam. Das war die Frage, auf die niemand eine Antwort wusste.
Nat, Sam und Rhodey warfen sich unschlüssige Blicke zu. Vision sah Wanda an, als könne sie antworten. Sie zuckte mit den Schultern. Sie wusste nur, was sie wollte.
„Also, erst einmal müsst ihr in cognito bleiben.", sagte Tony. „Das wissen wir.", sagte Steve nickend.
„Ich rede nicht nur von Tarnung.", wandte Tony ein. "Ich rede von dauerhaften optischen Veränderungen."
„Bevor wir so tief in die Materie eintauchen,", sagte Nat kopfschüttelnd. „sollten wir klarstellen, wer dieses wir überhaupt ist."
„Vision bleibt bei mir.", sagte Tony. Es war mehr eine Feststellung als eine Bitte.
"Ich brauche dich hier und du gehört nicht zu denjenigen, die untertauchen müssen."
Vis nickte zustimmend. Wandas Kopf begann zu pochen.
„Ich bleib auch da.", steuerte Rhodey mit einem müden Lächeln bei. „So lange, bis ich wieder stabil bin." Nat lächelte ihn aufmunternd an. „Dann ist wir der ganze Rest, schätze ich.", sagte Sam und sah sich in der Runde um. Alle nickten. „Okay, zusammen,", setzte er wieder an, „Lasst uns vom Radar verschwinden."
„Im Sinne der Sicherheit solltet ihr an einen Ort gehen, an dem man euch nicht vermutet oder aufspüren könnte.", sagte Tony.
Nat runzelte die Stirn. „Es wird landesweit und über die Grenzen hinaus nach uns gesucht. Was genau stellst du dir vor?"
„Naja, da gibt es so Einiges...", überlegte Steve.
Nat sah ihn verunsichert an. „Denkst du daran, ins Ausland zu gehen?"
Wanda, die bisher unbeteiligt den Teppich angestarrt, das Gespräch aber mitverfolgt hatte, sah nun ebenfalls auf.
„Ich überlege nur.", murmelte Steve. „Natürlich werden wir uns verstecken müssen. Aber bleiben wir hier, werden die uns auf der Fährte sein. Womöglich ist es woanders wirklich sicherer."
Einen Moment der Überlegung später nickten Sam und Nat. Wanda zuckte nur ratlos mit den Schultern, was für Sam ein Ja bedeutete. „Wie wär's mit London?", schlug er vor.
„Viel zu zentral.", murmelte Nat. „Und außerdem zu kalt."
"Entschuldige, wo bist du noch gleich aufgewachsen?", fragte Steve grinsend. Nat musste lächeln. „Also, England und Europa können wir knicken.", entschied sie. "Da kleben unsere Gesichter inzwischen an jeder Litfaßsäule."
"Hat jemand n'e andere Idee?", fragte Sam den Rest. Wanda schüttelte unmerklich den Kopf.
Eine Weile lang schwiegen wieder alle. Jeder wartete darauf, dass irgendjemand anderes einen Vorschlag aufbrachte.
„Bowmore.", warf Steve schließlich ins Schweigen hinein. "Als ich neulich mit Sharon telefoniert habe, sprach sie von einem Ferienhaus in Bowmore, es gehört Peggys Sohn."
„Schottland? Bist du sicher?", zweifelte Nat.
"Nahezu.", antwortete Steve. "Der Ort liegt auf einer Insel, ist klein und unscheinbar und weit weg von - von irgendwo."
"Und es gibt genialen Whiskey.", fügte Sam hinzu. Nat lächelte. „Also, wenn du dein Dörfchen an den Mann bringen willst, dann so."
Plötzlich griff Wanda sich an die Stirn. Die Kopfschmerzen waren wieder da, es war, als würden sie auf sie einstechen. Sie nahm einen tiefen Atemzug, aber die Schmerzen wurden nur noch schlimmer. Sie hoffte, dass sie niemand beobachtete haben würde, aber als sie den Kopf hob, sahen sie bereits alle an.
"Geht's dir gut?", fragte Nat.
"Ja.", sagte Wanda mit einem schnellen Nicken. Sie wusste, dass man ihr das Gegenteil ansah. „Ich brauche nur eine Minute." Sie stand auf und verließ das Wohnzimmer. Tony sah Steve an, dieser zuckte nur ahnungslos mit den Schultern. Er war sich sicher, dass man Wanda jetzt am Besten alleine ließ, was immer sie auch hatte.
„Also!" Er brachte das Gespräch wieder ins Rollen. „Bowmore. Lasst uns nach Bowmore gehen."

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