Auf ihrem Weg zum Bad hörte Wanda ein paar Geräusche von unten aus der Küche. Das Klappern von Geschirr und den ein oder anderen Gesprächsfetzen. Die anderen deckten wohl schon den Tisch und sie wusste genau, worüber sie dabei redeten.
Zwei Tage war ihr nächtlicher Ausflug nun her, und diese zwei Tage zu durchleben, würde sie niemandem wünschen. Es waren zwei Tage der Panikattacken und unruhigen Nächte gewesen, zwei dieser Tage, die man am Liebsten aus der Erinnerung verbannen würde.
Am ganzen Körper zitternd und mit immer wieder herunterklappenden Augenlidern öffnete sie die Badezimmertür. Die Luft war stickig und roch nach lebensbedrohlichen Chemikalien. Nat hatte fast die ganze Nacht im Bad verbracht, dem Geruch nach zu urteilen mit dem Plan, eine Pestplage auszulösen.
Kurz bevor sie das Zimmer betrat, musste Wanda sich an der Wand abstützen und tief ein- und ausatmen, weil ihr Kreislauf zusammenzubrechen drohte.
Etwas in ihr löste sich bereits, als sie sich von ihren Klamotten befreite und das heiße Wasser anstellte.
Sie stellte sich beim Duschen ganz gerne vor, dass sich jeder Tropfen Wasser in Berührung mit ihrer Haut in pure Energie verwandelte.
Nachdem sie gut zehn Minuten lang einfach nur das Gefühl des Wasserdrucks auf ihrer Haut genossen hatte, duschte sie heiß und anschließend kalt. Dann rubbelte sie sich die Haare mit einem Handtuch trocken und streifte sich einem weiten Pullover über, der ihr fast bis über die Knie ging.
Zitternd beobachtete sie jede noch so kleine Bewegung ihres Körpers im Spiegel und griff nach dem Rand des Waschbeckens, gerade rechtzeitig, bevor ihr für ein paar Sekunden schwarz vor Augen wurde.Mit feuchten Haaren und der absoluten Sicherheit, wie der letzte Penner auszusehen lief sie schließlich die knarzende Holztreppe hinunter. Inzwischen war sie ziemlich hungrig, obwohl sie gestern Abend auf Befehl von Steve zwei Teller Curryreis in sich hineingezwängt hatte - ihre erste Mahlzeit seit dem Schlafwandeln.
Als sie in der Wohnküche eintraf, waren die Jungs mit den letzten Kleinigkeiten für das Frühstück beschäftigt. Draußen wütete ein Herbststurm, der die See ordentlich in Bewegung setzte. Im Fernsehen liefen leise die Morgennachrichten, Sportergebnisse vom Vorabend und solches Zeug.
Wandas Blick fiel sofort auf Natasha, die schon am Tisch saß, sich ein Erdnussbutterbrot schmierte und dabei nicht um Sparsamkeit bemüht zu sein schien. Das Verhalten war ganz sicher nichts Neues, die Farbe ihrer Haare aber war es.
Statt der altbekannten, roten Locken rahmte ein glatter, blassblonder Bob Nats Gesicht. Das war es also gewesen, was sie gestern bis spät in die Nacht im Badezimmer veranstaltet hatte. Die Frage war nur, wieso.
Neugierig aber auch verwirrt setzte Wanda sich zu ihr an den Tisch und starrte sie eine ganze Weile lang nur an. Unhöflich, das war ihr klar, aber sie hatte schon weitaus unhöflichere Dinge getan.
"Tasha, was-", platzte es dann aus ihr heraus. Zu mehr kam sie auch nicht, denn Nat unterbrach sie: „Wir müssen dir was sagen."
Wie auf ein Zeichen setzten sich die Jungs zu den beiden an den Tisch. Das Frühstücksrondell war vollständig und Nats schlanke Finger griffen nach einem Briefumschlag, den sie neben ihrem Teller liegen gehabt hatte. Sie reichte ihn Wanda über den Tisch hinweg mit den Worten: „Mach das auf."
Ein ungutes Gefühl machte sich ins Wanda's Magen breit. Was könnte das sein?, fragte sie sich, während sie den Umschlag unbeholfen mit ihren Fingernägeln aufriss.
Eine Klage aus Westafrika? Ein Ausschlussformular, dass das ganze Team bereits unterschrieben hatte? Ein Fetzen Papier, der ihre Mitgliedschaft bei den Avengers für immer beenden könnte...
Mit zitternden Händen zog sie den Inhalt des Umschlags hervor.
Er bestand aus ein paar Zetteln, die zu klein für ein Formular oder etwas derartiges waren.
Beim näheren Betrachten begann sich der Klumpen in ihrem Bauch zu lösen.
Edinburgh Waverley Railway Station war das einzige, was sie in ihrer Anspannung lesen konnte, bevor Steve anfing, zu erklären.
„Das sind Zugtickets." sagte er. "Über Weihnachten fahren wir runter nach Edinburgh."
„Und dort...", fuhr Nat fort, „werden wir Vision treffen."
Wanda glaubte, nicht richtig zu hören. Sie öffnete ihren Mund, bekam aber kein Wort heraus.
Nat sah ihr an, dass sie scheinbar noch ein paar Grundinformationen benötigte, um den Sachverhalt zu verarbeiten. "Nach allem, was du in letzter Zeit durchmachen musstest, dachten wir, es würde dir gut tun, für eine Woche hier raus zu kommen und ihn wieder zu sehen."
Sie nickte, um ihre kleine Schilderung gesetzeskonform zu beenden. Erwartungsvoll sahen die drei Wanda an. Und erst ein paar reflektierende Sekunden später wurde ihr richtig klar, was ihr gerade mitgeteilt wurde.
Als sich langsam aber sicher ein Lächeln in ihrem Gesicht abzuzeichnen anfing, atmeten ihre drei Kameraden erleichtert auf.
Wanda schüttelte ungläubig den Kopf. Ein paar überschwängliche Tränen konnte sie nicht zurückhalten.
Innerhalb der letzten Minuten war ihr ein ungeheurer Stein vom Herzen gefallen.
Ihr Blick ging durch die Tischrunde und blieb an jeder einzelnen Person für einen Sekundenbruchteil dankbar hängen.
Sie hatte den dreien das Leben zur Hölle gemacht und es wirkte, als würden sie ihr nichts von all dem nachtragen. Sie wusste, sie zeigte es nicht oft, und manchmal vergaß sie es sogar, aber sie waren ihr wichtig, und das nicht nur, weil die gemeinsame Flucht sie zusammengeschweißt hatte.
„Oh, mein... danke.", sagte sie mit tränenerstickter Stimme.„Ich hab das erst einmal gemacht, also wird es nicht aussehen wie geplant, so viel ist sicher.", sagte Nat, während sie eine Plastikhaube von Wandas Kopf löste.
Die beiden saßen spät abends noch im Bad vor dem Spiegel, um ein ziemlich riskantes Vorhaben zu erledigen.
Auf dem Badewannenrand stand ein übel riechendes Farbgemisch. Der Gestank zog durch das offene Fenster ab und vermischte sich mit angenehm kühler salziger Nachtluft.
"Es zieht.", protestierte Wanda ruhig und griff über ihre Schulter nach der Haube, um sie selbst abzuziehen. Dann bekam sie eine sie eine steile Stirnfalte. "Wie stehen die Chancen, dass ich es hasse?", fragte sie.
Nat überlegte. "60:40. Ich bin unglaublich schlecht in sowas. Wobei ich auch nicht weiß, was du dir versprochen hast von einer Farbe namens Copper Magic." Sie begann, Wandas Haare trocken zu föhnen.
"Es war das einzige Rot, das sie hatten", meldete sich Wanda über das Dröhnen des Föhns hinweg.
"Und du hättest mich nicht warnen können?"
"Dann hättest du es mich doch niemals machen lassen."
Nat summte leise eine unbekannte Melodie vor sich hin.
„Nat, warum helft ihr mir?" Da war sie ihr herausgerutscht, die Frage, die ihr schon seit dem Frühstück durch den Kopf schwirrte.
„Was?", fragte Nat mit gehobenen
Augenbrauen.
"Ich bringe euch doch nur in Schwierigkeiten."
"Jetzt hör mir mal gut zu.", sagte Nat, schaltete den Föhn aus und legte ihn ins Waschbecken. „Vielleicht hast du den falschen Eindruck von unserer Arbeit gewonnen.
Wir sind mehr als ein Team - wir sind eine Familie. Und du steckst hier mit drin, weil du Teil dieser Familie bist.
Du wirst uns nicht einfach los, indem du kurz Theater spielst, klar? So einfach ist das nicht."
Wanda wischte sich eine Träne weg, die ihr beinahe über die Lippen gelaufen wäre, und nickte.
"Steh auf.", forderte Nat sie auf.
Wanda stand auf und sah sich im Spiegel an.
Eine junge Frau mit einer neuen, rotblonden Mähne starrte ihr entgegen. Sie erkannte sich selbst kaum wieder und das gefiel ihr.
"Wie findest du's?", fragte Nat.
"Grässlich.", antwortete sie lächelnd und ihre nun blonde Kameradin lächelte ebenfalls.
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Westering Home - Wanda's Vision
Fanfiction"Sie mag alte amerikanische Filme und den Geruch von Zimt. Aber wenn ich ihr etwas schenke, sollte es etwas besonderes sein. Und ich glaube, dass Materielles nicht ausreicht, um ihr all die Geburtstagsgeschenke zu geben, die sie nicht bekommen hat."...