Am nächsten Morgen wachte Wanda seltsamerweise als erste auf. Es war sieben Uhr. Um Nat nicht zu wecken, stand sie leise und vorsichtig vom Bett auf und lief zum Fenster.
Das Wetter war sogar einigermaßen schön. An den Kliffen in der Ferne zerbrachen wilde Wellen and auf der Wiese direkt vor dem Haus entdeckte sie ein paar Schafe, die vor sich hin grasten.
Sie öffnete ihre Reisetasche und warf einen Rollkragenpullover und die erste Hose, die sie fand, hinter sich aufs Bett.
Noch in ihrer Schlafkleidung lief sie hinunter in die Küche und weihte die Kaffeemaschine ein.
Mit zwei Tassen frischem Kaffee kam sie schließlich zurück ins Zimmer.
Als sie sich kurz darauf anzog, schlug Nat die Augen auf. "Morgen.", sagte sie gähnend, während sie sich aufsetzte. Sie nahm die Tasse auf ihrem Nachttisch zu sich ins Bett und nippte daran.
"Gut geschlafen?"
Wanda machte eine "geht so"-Handbewegung.
"Mmh", stimmte Nat zu, "ich auch."
Wanda zog sich ihren dicken Pullover über den Kopf und rieb sich wärmend die Arme.
"Ich hab diese wiederkehrenden Träume.", sagte sie. "Seit dem Gefängnis schon."
"Wovon?", fragte Nat. Wanda schüttelte ihre Hände, um sie zu lockern. "Von Krieg.", gab sie zu.Nachdem sie mitgebrachte Reste gefrühstückt hatten, verbrachten alle vier den ganzen Vormittag damit, Gepäck vom Jet zur Hütte zu schleppen.
Als sie damit fertig waren, erledigten sie im örtlichen Supermarkt ein paar Einkäufe, aus denen sie sich auch ein Mittagessen machten.
Später am Nachmittag beschlossen sie, das Umfeld zu erkunden.
Die Hände in den Jackentaschen vergraben liefen sie hinauf in die Berglandschaft, die hinter der Hütte lag und spatzierten an der steilen Küste entlang.
Der kalte Wind stach ihnen ins Gesicht und der Himmel verdunktelte sich, als ob ein Unwetter aufzog. Aber das hinderte die vier nicht daran, weiterzulaufen. Und als sie so lange aufwärts gewandert waren, dass sie die Zeit vergessen hatten, erreichten sie den höchsten aller Felsen.
Von dort aus war ihre Hütte nur noch ganz klein und man hatte einen atemberaubenden Ausblick auf das Meer und die Landschaft.
Wanda war die einzige, die ganz bis zum Rand des Abhangs lief, um hinunterzusehen. Eine Angst, die sie nicht hatte, war Höhenangst.
Sie schloss die Augen und atmete die frische Meeresluft ein.
Dann warf sie einen Blick auf den Horizont in der Ferne.
Vision hätte es hier geliebt. Er war fasziniert davon, dass der Kosmos unendlich war und es Menschen nicht erlaubt war, diese Unendlichkeit wahrzunehmen. Deshalb gefielen ihm jene Orte auf der Welt, an denen man es zumindest versuchen konnte.Zum Abendessen gab es Fish 'n Chips, eine von Sams Spezialitäten.
Steve hatte inzwischen den alten gebrechlichen Fernseher zum Laufen gebracht und sie konnten an diesem Abend einen Film sehen.
Vor dem Schlafengehen übte Wanda noch etwas Gitarre. Sie hatte beschlossen, dass es bei dem einen Lied nicht bleiben durfte. Es gab ein neues, das sie unbedingt lernen wollte, auch, wenn es ein paar wirklich komplizierte Griffe hatte.
Im Zwielicht saß sie auf dem Bett und versuchte sich an den ersten Akkorden, die Augen konzentriert auf dem Notenblatt ruhend. Begeistert sah Nat ihr beim Üben zu.
„Das ist schön.", sagte sie. Wanda nickte nur, ohne die Miene zu verziehen. Nat war sich nicht mal sicher, ob sie sie verstanden hatte.
Nach einer Weile schnappte sie sich die Noten und überflog sie. Für sie waren es nichts als kleine Punkte und Striche.
"Wie um Himmels Willen liest du diese Dinger bloß?", fragte sie überfordert.
Irritiert nahm Wanda ihr den Zettel aus der Hand und platzierte ihn wieder auf dem Notenständer, um weiter zu spielen.
"Wanda", sagte Nat und nahm ihr erneut die Noten weg, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. "Deine Träume - was zeigen sie dir?"
"Wie bitte?" Wanda hatte aufgehört, zu spielen und sah sie überrascht an.
"Tut mir leid.", flüsterte Nat. "Aber ich muss es wissen. Steht uns ein Krieg bevor?"
Wanda biss sich auf die Wange. "Ich weiß es nicht." Sie legte die Gitarre zur Seite. "Ich kann sie nicht deuten. Womöglich sind es Erinnerungen."
"Schließ deine Augen.", bat Nat sie.
Sie zögerte, tat es dann jedoch.
"Was siehst du?"
Wanda versuchte, auf ihre sporadische Erinnerung zuzugreifen. "Staub... Feuer...", sagte sie.
Ein brennender Schmerz fuhr durch ihre Schläfen. Sie stöhnte. "Tut mir leid, es ist alles verschwommen..."
"Augen auf.", befahl Nat. Wanda schlug ihre Augen auf und atmete tief durch. Der Schmerz klang langsam ab.
"Eines habe ich gesehen...", hauchte sie erschöpft. "Vision."
Nat blickte sie einfühlsam an.
"Ich weiß, es ist nicht einfach.", sagte sie.
"Ich denke an Bruce. Fast jede Nacht. Aber ich hab akzeptiert, dass er weg ist."
"Ich bin nicht du, Natasha.", sagte Wanda kalt.
Nat bemerkte, dass sich um ihre grünen Augen ein roter Rand zu bilden begann. Wandas Augen glühten nur dann rot, wenn sie überbelastet war. Eigentlich hatte Nat ihr zu verstehen geben wollem, dass sie trotz allem den Verlust ihres Bruders verkraftet hatte.
Aber als sie die junge Frau so verzweifelt sah, hielt sie es für besser, das Thema nicht anzuschneiden.
"Na, komm.", sagte sie deshalb nur und nahm Wanda in die Arme. Diese vergrub ihr Gesicht in Nats Schulter und wünschte sich, einzuschlafen. Und zumindest dieser Wunsch erfüllte sich nach einiger Zeit.
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Westering Home - Wanda's Vision
Fanfic"Sie mag alte amerikanische Filme und den Geruch von Zimt. Aber wenn ich ihr etwas schenke, sollte es etwas besonderes sein. Und ich glaube, dass Materielles nicht ausreicht, um ihr all die Geburtstagsgeschenke zu geben, die sie nicht bekommen hat."...