I - Dunkelheit

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Die Häuserfront erhob sich aus dem Nebel vor ihr. Dunkelheit umhüllte ihre Sinne und Kälte zerrte an ihrem Körper. Bei jedem Atemzug spürte sie die eisige Luft tief in ihrer Lunge, bei jedem Schritt den frostigen Boden unter ihr. Sie lauschte jedem noch so kleinen Geräusch auf ihrem Weg durch die Finsternis. Es fiel ihr schwer, denn ihr eigener Atem rasselte in ihren Ohren.
Ein leises Knacken hinter ihr ließ sie kurz innehalten, doch sie traute sich nicht, auch nur einen kurzen Blick zurück zu werfen. Automatisch beschleunigte sie ihren Schritt. Angst kroch in ihr hoch und nahm von ihren Gedanken Besitz. Wenn sie heute starb, hätte sich ihr Lebenskampf nicht gelohnt. All die Jahre wären umsonst gewesen. Und das konnte sie unmöglich auf sich ruhen lassen, denn sie war es vielen Menschen schuldig, zu kämpfen. Vor allem ihrer Familie.
Ein unfassbar starker Windstoß ließ sie schwanken. Es war so weit. Wieder musste sie sich einer Aufgabe stellen, die ihr so furchtbare Angst machte und sie jede Nacht in ihren Träumen quälte. Zitternd griff sie in ihre Tasche und schloss ihre kalten Finger um die silberne neun Millimeter Beretta. Vorsichtig lud sie die Waffe und hoffte, dass das Klicken nicht zu laut sein würde. Doch ihre Hoffnung wurde zunichte gemacht, als das verräterische Geräusch erklang. Und in diesem Moment wusste sie, dass sie nicht viel Zeit zum Nachdenken hatte. Mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich um und schoss. Die Augen, die ihr entgegen starrten, wechselten von rot zu braun und die Zähne im Maul der Bestie zogen sich zurück. Er war einige Meter entfernt, dennoch hatte sie genau in sein Herz geschossen. Seine Hand berührte die Stelle, an der die Kugel seine Haut durchdrungen hatte. In diesem Moment breitete sich der flüssige Inhalt der Patrone in seinem Körper aus, ergriff Besitz von seinem Körper und lähmte ihn binnen Sekunden. Er fiel zu Boden. Mit ein paar schnellen Schritten stand sie über ihm, kniete sich neben ihn und sah in seine klaren, haselnussbraunen Augen. Jedes mal wenn sie einen von ihnen getötet hatte, spürte sie wie ihr Magen sich zusammenzog und ihr Gewissen sich bemerkbar machte. Mit aller Kraft hob er seinen Arm und berührte ihre Hand, die an seinem Gesicht lag.
"Bitte..." Sein Atem ging stockend, denn das Mittel fraß bereits seine Lunge, sodass er keine Luft mehr bekam. "...will nicht ... sterben". Vorsichtig strich sie ihm über seine eiskalte Wange. Tränen traten ihr in die Augen, doch sie riss sich zusammen. Und mit jedem mal fiel es ihr leichter, dem Schmerz nicht nachzugeben. Schließlich stockte seine Atmung und sie schloss seine starren Augen.
Dann hörte sie jemanden klatschen. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Kraft mehr sich zu bewegen, doch sie schloss die Augen und rief sich den Grund für all das in Erinnerung. Dann erhob sie sich. Und obwohl ihre Knochen höllisch schmerzten, richtete sie sich kerzengerade auf. Den Mann, der ihr gegenüber stand, kannte sie nur allzu gut. Sie hatte schon oft die Gelegenheit gehabt, ihn zu töten, doch es hatte einen Grund, warum sie das niemals tun würde. Das lag nicht an ihrem Mangel an Beherrschung oder ihrer menschlichen Schwäche, nein, es lag an seiner unerschöpflichen Macht über sie.

Sein dunkles Haar fiel ihm in sein schönes Gesicht und überdeckte beinahe seine blutroten Augen. Er trug einen weiten, schwarzen Mantel. So schwarz wie sein Blut. Doch das alleine machte ihn nicht so gefährlich. Es war seine Art, das boshafte Lächeln in seinem Gesicht, die lockere Geste seiner Hände, die in seinen Hosentaschen vergraben waren und sein durstiger Blick, die ihr jede Sekunde ihres Lebens zu schaffen machte. Früher hätte sie in so einem Augenblick wahrscheinlich gebetet, aber heute wusste sie, dass es da oben weit und breit niemanden gab, der ihre Gebete erhörte oder ihr jemals helfen würde, wenn sie in Not war. Aber sie gab sich trotzdem nicht geschlagen, nicht solange es noch einen Grund gab, der sie weiter antrieb. Und deshalb starrte sie ihm in seine Augen und wartete auf eine Regung seinerseits.
"Es ist so traurig, Schwester." Er kam einen Schritt auf sie zu, doch sie bewegte sich nicht von der Stelle. Sie wusste ganz genau, dass er sie mit einer schnellen Handbewegung selbst bei der Entfernung einfach töten konnte, aber das wäre ihm zu einfach. Er wollte es spektakulär, wollte sie erst auskosten und dann langsam töten. Er tat noch einen Schritt. Fest umklammerte sie ihre Beretta. "Du könntest auch so sein wie ich und dich endlich von deinem inneren Schmerz befreien. Und wir wären wieder zusammen, so wie früher."
"Wenn ich die Wahl habe zwischen einem ewigen Leben mit dir oder dem Tod, dann ziehe ich den Tod vor." Er neigte den Kopf leicht und seine wirren Haare gaben seine blutroten Augen frei.
"Das ist wirklich schade. Aber rechne nicht damit, dass du eines Tages noch die Wahl haben wirst. Übrigens...", er zögerte und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, "...soll ich dir ausrichten, dass du endlich aufhören sollst, die Sklaven meines Meisters zu töten!"
Im Bruchteil einer Sekunde stand er direkt vor ihr und legte seine rechte Hand an ihren Hals. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Puls anfing zu rasen, als er seinen Kopf beugte. Ihre Beine versagten ihr komplett den Dienst, als er seine andere Hand auf ihren Mund legte. Er konnte doch nicht etwa mitten auf der Straße... Ihre Augen weiteten sich vor Schmerz, als sich seine spitzen Zähne durch ihr Fleisch in ihren Hals bohrten. Seine Hand unterdrückte ihren erschütternden Schrei. Seine Zunge fuhr über ihre Haut, doch sie spürte schon fast nichts mehr. Wollte er sie etwa töten? Aber das konnte er nicht, sie war doch seine Schwester! Doch als ihre Kräfte sie endgültig verließen wurde ihr nur zu deutlich bewusst, dass ihr wirklich keine Wahl blieb. Er war so viel mächtiger und stärker als sie. Ein kleiner Teil von ihr wünschte sich den Tod, dann wäre endlich alles vorüber. Der Schmerz, die Trauer und der stetige Kampf um ihren Bruder. 
Doch dann riss er sich abrupt von ihr los und ließ sie zu Boden fallen. Und so schnell wie er gekommen war, verschwand der dunkle Dämon auch wieder. Und Ivory blieb reglos auf dem Asphalt liegen, während es anfing leise zu schneien.  

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Danke fürs Lesen!

Ich hoffe der Einstieg in meine düstere Welt gefällt euch :)
Gerne nehme ich eure Kritik entgegen - will mich ja stetig für euch verbessern ;)

LG
LiviaDV

Jägerin Band 1 - Zwilling *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt