VIII - Panik

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Zwei Stunden nach der Begegnung mit Killian betraten Ivory und Damien ihre Stammbar, wo sie von wohliger Wärme und dem herben Geruch von Holz und Alkohol empfangen wurden. Obwohl die Barhocker abgenutzt und der Holzboden schon ergraut war, hatte der Ort etwas beruhigendes an sich. Im gedämpften Licht nahm sie wahr, wie ihre Freundin Crystal hinter der Bar hervortrat und ihnen freudestrahlend entgegen kam, während Ivory sich ihre Jacke auszog und Damien reichte.
"Wen haben wir denn da?", rief sie begeistert und schloss Ivory in den Arm. Crystal, die ihren Namen ihren kristall-blauen Augen verdankte, war eine der wenigen Person, bei der sie körperliche Nähe zuließ.
Sie war etwas kleiner als Ivory, vielleicht 1.65 Meter, und hatte wasserstoffblondes Haar, das sie heute zu einem unordentlichen Haarkranz geflochten hatte. Sie trug ein ausgewaschenes, weißes T-Shirt mit tiefem Ausschnitt und dazu eine enge, dunkelblaue Jeans und schwarze Bikerboots. Ihre Hände zierten silberfarbene Ringe und unter dem Ärmel ihres Shirts lugte ein verschnörkeltes Tattoo hervor.
Gerade weil die Beiden so gegensätzlich wie Feuer und Wasser waren, hatte Ivory ihre Freundin ins Herz geschlossen. Ein bisschen beneidete sie Crystal um ihren Leichtsinn und das Selbstbewusstsein, das sie umgab.

Zärtlich hauchte sie Ivory noch einen Kuss auf die Wange und warf sich schließlich Damien um den Hals. "Wie schön, euch mal wieder zu sehen!", rief sie freudig. Ivory hatte wirklich keine Ahnung, woher sie diesen Enthusiasmus nahm.
Sie beobachtete, wie ihr bester Freund Crystal sehnsüchtig begaffte, was ihr ein kleines Grinsen entlockte. An ihr hatte sogar er sich schon die Zähne ausgebissen.
"Setzt euch doch an die Bar. Heute geht alles aufs Haus!" Sie verschwand wieder hinter dem Tresen und knallte schwungvoll eine Flasche billigen Tequila auf die Holztheke, schnappte sich drei Shot-Gläser und befüllte sie. Damien nahm sich als Erster eins und zwinkerte Ivory zu, ehe auch sie sich bediente. Mit einem Klirren stießen die drei ihre Gläser zusammen und tranken den den Tequila in einem Zug aus.
Nach einigen Runden drehte Crystal die Musik lauter und wippte ihre Hüften im Takt, dabei konnte Damien seinen Blick nicht von ihren Kurven loseisen, die sie rhythmisch hin und her bewegte.
Glücklicherweise vergaß Ivory für diese paar Stunden alle Geschehnisse der vergangenen Tage. Ihren Bruder, ihr Leben, ihre Aufgabe.
Aber wen sie nicht aus dem Kopf bekam, egal wie viel Tequila sie intus hatte, war Killian. Nein, eigentlich waren es seine Augen, seine Hände und sein markantes Gesicht, die sie selbst in volltrunkenem Zustand nicht vergessen konnte. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, sie kannte ihn ja kaum. Trotzdem schien dieses eine Mal ihr Herz die Überhand zu gewinnen.

Stunden später drängten sich ein duzend Menschen unterschiedlichster Gesinnungen in der kleinen Kneipe zusammen. Inmitten des Getümmels saß Ivory einsam an der Bar und wartete auf Damien und Crsytal, die sich bereits vor einigen Minuten aus dem Staub gemacht hatten. Der Alkohol wog schwer in ihrem Kopf und langsam keimte in ihr das Bedürfnis auf, nach Hause zu gehen. Auf einmal kamen ihr die Menschen viel zu penetrant und ungehobelt vor, die Musik schien zu laut und der Geruch von Bier brannte ihr unangenehm in der Nase. 
Als sich zu allem Übel auch noch ein betrunkener Mann neben sie stellte und aufdringlich mit ihr zu Flirten begann, stand sie schwankend auf und verließ die Bar. Damien würde allein zurechtkommen müssen.

Der nächste Morgen begann schmerzhaft. Ivory schaffte es nur mit größter Anstrengung, die Augen zu öffnen. Ihr Kopf dröhnte, als wären dort tausend Bienen gefangen, jedes Geräusch fühlte sich wie ein Messerhieb in ihren Kopf an. Mühevoll hievte sie sich aus dem Bett und wäre beinahe hingefallen, hätte sie sich nicht rechtzeitig am Fensterbrett abgestützt.
"Verdammter Mist!", murmelte sie genervt. Ihre Mum hatte ihr immer strengstens verboten, Schimpfwörter zu gebrauchen, aber sie hatte auch gesagt, dass jeder Mensch bekam was er verdiente. Und trotzdem war sie umgebracht worden.
Obwohl ihr Magen knurrte, war sie nicht in der Verfassung, um auf ihre Bedürfnisse einzugehen, deshalb machte sie sich lediglich eine Tasse Kaffee und legte sich erschöpft auf die Couch. Als sie den Kaffee ausgetrunken hatte, fühlte sie sich um einiges besser, auch die Kopfschmerzen ließen nach und wurden von Gedanken an Killian ersetzt. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. 
Auf einmal wurden ihre positiven Gedanken von dunklen Wellen überflutet, tiefe Panik breitete sich in ihrem Brustkorb aus und sie rang verzweifelt nach Luft, als ihre Lunge ihr das Atmen versagte. Ihr Körper verkrampfte sich schmerzhaft, der Biss an ihrem Hals begann sie von innen heraus zu verbrennen. Ein Schrei verließ ihren Mund, als die Erinnerungen in ihr hochstiegen, während heiße Tränen ihre Sicht vernebelten.
Bilder ihre wunderschönen, liebevollen Mum und ihrer kleinen Schwester Grace mit dem goldenen Engelshaar, blitzen vor ihrem inneren Auge auf.
Gedanken an ihren Dad, dem sie niemals die Schuld für das Geschehene geben würde, weil sie ihn zu sehr liebte.
Erinnerungen an Elian. An seinen blutroter Blick, seine Kälte. Ihr Zwilling.
Gott, wie sehr hatte sie diese Familie geliebt!
Tränen flossen in Strömen über ihre Wange. Verzweifelt versuchte sie, die Panikattacke zu unterdrücken. Doch das machte es nur noch schlimmer. Ivory krümmte sich, weil der Schmerz ihre Seele fraß, weil er ihr die Kontrolle über ihren Körper nahm. Sie schrie als sich die grauenvolle Szene vor ihr abspielte, die sie jeden einzelnen Tag versuchte zu vergessen.

Die offene Kehle ihrer Mum, ihre leblosen Augen starr nach oben gerichtet. Gracies verzweifelte Schreie, die Ivory in den Ohren hallten. Die Kleine verstand gar nicht, was da gerade geschehen war und trotzdem war ihr bewusst, dass es schrecklich sein musste. Ivory lief zu ihrer kleinen Schwester, wollte sie beschützen. Doch sie hatte keine Chance gegen das Unmenschliche. Wie eine Puppe fegte ihr Vater sie quer durch den Raum, packte ihre kleine Schwester an den Haaren...

Ivorys Schreie wurden immer lauter, sie konnte nicht atmen. So eine schlimme Panikattacke hatte sie seit Jahren nicht mehr gehabt. Ihr Kopf dröhnte, ihr Körper schien die Erinnerungen nicht ertragen zu können. Sie zuckte, als ein stechender Schmerz sie durchfuhr. Ihr Gesicht war nass von Tränen, doch die Gedanken wollten nicht enden.

Blut floss aus den unzähligen Wunden, die ihr Vater ihr zugefügt hatte. Es waren höllische Qualen, die Ivory durchmachen musste. Noch realisierte sie kaum, dass ihre Mutter neben ihr lag und ihre Schwester nur ein paar Meter weiter, kaltblütig abgeschlachtet. Elian saß inmitten des Massakers und sah auf seine blutverschmierten Hände. Er war leichenblass.
Lauf weg!, dachte Ivory, doch sie konnte nicht mehr sprechen. Der Mann, der einst ihr Vater gewesen war, ging auf ihren Zwilling zu, packte ihn an den Haaren und riss seinen Kopf nach hinten. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, vergrub er seine Zähne tief in seinem Hals. Elian schrie, ob vor Schmerz oder aufgrund der Erkenntnis, dass alles vorbei war, wusste Ivory nicht. Es war grauenvoll. Sie sah ihren Zwilling, ihr Ein und Alles, leiden. Ihr Vater ließ von ihm ab und Elian sackte auf den Boden. Seine blauen Augen wechselten ihre Farbe. Schwarz, rot, dann wieder blau. In seinem Gesicht waren seine Qualen und der Schmerz abzulesen, doch trotz der unvorstellbaren Anstrengungen formte er mit dem Lippen drei Worte: Ich beschütze dich.

Elian hatte sein Versprechen nicht gehalten. Er hatte sie allein gelassen. Sterbend.
Aber sie konnte es ihm nicht nachtragen, so sehr sie es auch versuchte. Er war seit dieser Nacht nicht mehr ihr Zwillingsbruder, das Monster hatte Besitz von ihm ergriffen. Elian hatte sie geliebt, hatte sie beschützen wollen. Aber die Verwandelten hatten ihm seine reine Seele genommen.
Zitternd versuchte Ivory wieder einen klaren Gedanken zu fassen, doch ihr innerer Schmerz ließ es nicht zu.
Ihr Zittern wurde zu einem bitteren Schluchzen. Das Einzige, wonach sie sich sehnte, war ihre Familie. Selbst nach all der Zeit war es ihr unmöglich die Erinnerungen loszulassen. Denn loslassen bedeutete zu vergessen. Und das würde sie niemals können.
Ich beschütze dich.
Ivory betrachtete ihre zitternden Hände. Ihr Herz schlug viel zu schnell in ihrer Brust. Sie dachte wirklich, dieses Mal würde sie den Verstand verlieren.
Mühsam versuchte sie, ihren Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie zog ihre schmerzenden Beine an und rieb ihre zitternden Arme mit den Händen, damit sie sich beruhigen konnte. Sie erinnerte sich wie Elian oder ihre Mum das früher getan hatten, wenn sie nicht gut geschlafen hatte.
Aber sie waren nicht mehr da.


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Liebe Leser,

ich danke euch von ganzem Herzen, dass ihr meine Kapitel so eifrig lest - 220 Reads erscheinen mir schon wie ein Wunder! ❤😊

Ich hoffe ihr konntet Ivorys Schmerz bezüglich dem Tod ihrer Familie jetzt besser verstehen und euch dabei auch ein Bild von ihrer gebrochenen Persönlichkeit machen...

Ihr dürft auch weiterhin gespannt sein, denn es wird dramatisch weiter gehen - das nächste Kapitel folgt wieder am Mittwoch :)

Schönen Sonntag und ersten Advent,

Eure LiviaDV


Jägerin Band 1 - Zwilling *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt