XV.II - Anspannung

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- Killian -

Angespannt nahm Killian einen tiefen Zug seiner Zigarette, während er über die verwahrloste Einfahrt in den dunkler werdenden Himmel blickte.
Da er keine Uhr besaß, konnte er nicht sagen, wie lange er bereits auf den kalten Stufen aus Stein vor dem großen Anwesen saß. Es musste aber bestimmt eine Stunde sein, denn er zog gerade an seiner sechsten Kippe.

Die aufkommende Dunkelheit inmitten der trostlosen Einöde machte ihm im Vergleich zu der Tatsache, dass Ivory alleine dort oben bei seiner Ex-Geliebten war, überhaupt nichts aus.
Seit er Alvas Schlafzimmer verlassen hatte, zerbrach er sich den Kopf über den weiteren Verlauf des Gesprächs, den er jetzt nur erahnen konnte.
Hoffentlich erzählte Alva nichts, was Ivory zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht wissen sollte. Und das war leider nicht gerade wenig.

Nervös fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht und hoffte inständig, dass die Kleine bald kommen würde, damit sie diesen düsteren Ort verlassen konnten.
Mittlerweile war es so kalt, dass sogar ihm die eisige Luft beim Einatmen in der Kehle brannte. Daher bot der warme Rauch der Zigarette eine wohlige Alternative.

Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich endlich die schwere Tür und er vernahm Ivorys Schritte hinter sich. Langsam ließ sie sich neben ihn auf die Stufen sinken und starrte genau wie er in die Ferne, als würden dort alle Antworten ruhen.
Killian nahm einen letzten Zug und drückte die Kippe auf dem kalten Stein aus, da er genau wusste, dass sie Zigarettenrauch nicht ausstehen konnte. Bereits vor Harrys Laden hatte er deutlichen Ekel in ihrem Gesicht gesehen, als er geraucht hatte.

"Was denkst du?", erkundigte er sich. Am liebsten hätte er sich für diese Frage geohrfeigt, denn normalerweise interessierte es ihn nicht einen Deut, was andere dachten. Wahrscheinlich war es ihr wundervoller Vanilleduft, der ihn wieder einmal schwach werden ließ.
Geräuschvoll atmete sie aus und steckte ihre schmalen Hände in ihre Jackentaschen. Eine weiße Wolke bildet sich vor ihr in der Kälte, während sie scheinbar nach den richtigen Worten suchte.

"Ich denke meine Ansichten haben sich noch einmal deutlich verändert... Außerdem überfordert mich die Informationsflut der letzten Tage ziemlich", gestand sie zögerlich.
Killian warf ihr aus den Augenwinkeln einen verstohlenen Blick zu und beobachtete ihre zarten Gesichtszüge und die langen Wimpern, die ihre mandelförmigen Augen betonten. Sie sah so schwach und zerbrechlich aus, obwohl er genau wusste, wie unglaublich stark sie war.
Sogar bei dem unterbrochenen Training im Wald hatten ihn Ivorys innerer Kampfgeist und auch ihre körperliche Kraft ziemlich überrascht.

Ihr ganzes Wesen beruhte auf Gegensätzen und dennoch schien er ihr langsam aber sicher zu verfallen. Die Art wie sie immer ehrlich ihm gegenüber war, die Bewegung ihrer Gesichtszüge, die mehr über ihre Gefühle verrieten, als es ihr wahrscheinlich lieb war und ihr immenser innerer Kampfgeist - all diese Wesenszüge beherrschten ununterbrochen seine Gedanken. Und das war leider viel öfter, als ihm lieb war.
Sein Kopf sagte ihm, er solle sie, ihr Familiendrama und die Last, die sie auf ihren Schultern trug, einfach hinter sich lassen. Doch irgendetwas hinderte ihn daran.
Als wäre er ertappt worden, richtete er seinen Blick wieder in die Ferne und versuchte seine Gedanken zu etwas Nützlichem zu formen.

Ein Teil von ihm wollte sich bei ihr für all die Strapazen entschuldigen, doch er wusste, dass die Ereignisse der vergangenen Tage nur der Gipfel des Eisbergs ihrer Vergangenheit waren. 
"Jedenfalls danke ich dir, dass du mich hierher gebracht hast. Ich kann mir vorstellen, dass das sehr schwierig für dich gewesen sein muss. Vor allem, weil Alva deine Ansichten nicht teilt und diese sogar eher missachtet", fuhr sie weiter fort. 
Erst jetzt bemerkte Killian, dass sie am ganzen Körper zitterte. Kein Wunder, mit ihrer zierlichen Statur hatte die Kälte leichtes Spiel.

Langsam erhob er sich und musste dem inneren Drang widerstehen, ihr nicht die Hand zu reichen, um ihr ebenfalls beim Aufstehen zu helfen, so wie er es versehentlich getan hatte, als sie vorhin angekommen waren.
Das Ziel seiner Unfreundlichkeit war für ihn ganz einfach zu formulieren: Er wollte nicht, dass sie sich in ihn verliebte. 
Und obwohl er anders erzogen worden war, sah er Ivory nun tatenlos dabei zu, wie sie sich eigenständig aufrappelte und anschließend an ihm vorbei zum Auto ging.

Sofort als sie in dem geräumigen Mercedes saßen, ließ er die Heizung auf Hochtouren laufen und wollte gerade den Motor starten, als Ivorys Hand seinen Arm berührte.
Verdutzt betrachtete er ihre schmalen Finger und stellte sich unweigerlich vor, wie sich ihre Hände wohl auf seinem Körper anfühlen würden.
Als er seinen Blick endlich hob, sah er in zwei große eisblaue Augen, die ihn traurig ansahen.

"Danke, Killian", hauchte sie beinahe zärtlich. Noch immer lag ihre Hand auf seinem Arm und nahm ihm jegliche Konzentration.
Sein Blick wanderte über ihr Gesicht und blieb kurz an ihren vollen Lippen hängen, die leicht geöffnet waren. Fast wirkte ihr Verhalten wie eine Einladung für ihn, vielleicht war sie aber tatsächlich so unschuldig, wie sie auf ihn wirkte.
Schnell blinzelte er die aufkommenden perversen Fantasien weg, um sich endlich wieder zu fassen. Wenn er nicht aufpasste, würde die kleine Jägerin noch sein Ruin sein.

"Ich weiß, dass meine Ansichten im Bezug auf den Virus nicht nachweisbar sind, aber ich stehe für meine Meinung ein und bin fest davon überzeugt, dass wir bald ein Heilmittel finden werden. Auch wenn die Umstände es nicht so wirken lassen, so will ich eigentlich nur an mein Ziel gelangen, genau wie du. Es wäre egoistisch von mir, dir meine Weltanschauung aufzuzwingen. Deshalb dachte ich, Alva könnte dir eine Alternative bieten."
Als hätte sie sich verbrannt, zog sie eilige ihre Hand von seinem Arm zurück. Sofort fehlte ihm ihre körperliche Nähe und er verfluchte sich innerlich für seine schwache menschliche Reaktion.
Killian spürte ihren stechenden Blick in seiner Seite und wusste, dass seine Aussage zeigte, dass er doch menschlich war und ein verfluchtes Herz besaß.

Das Läuten seines Handys zerbrach die Stille und nahm glücklicherweise die Spannung aus der Situation.
Unterdrückte Nummer, stand auf dem Display. Genervt nahm Killian den Anruf entgegen und schlug frustriert auf das Lenkrad, als er die nervig Stimme der Rezeptionistin vom Institut vernahm. Kurz angebunden teilte sie ihm mit, dass sie einen Flug nach Italien für morgen gebucht hatte und dass die Ergebnisse der Blutprobe eingetroffen waren.
Dass er gegen seine Rückreise nach Italien kein Veto einlegen konnte, war ihm sofort klar, denn der Auftrag kam von oberster Instanz.
Ohne zu Antworten schmiss er sein Handy frustriert in die Mittelkonsole, startete er den Motor und versuchte seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten, als er den Wagen vom Gelände steuerte.

Der Tag war beinahe angenehm gewesen und wurde wie immer von seinen auferlegten Pflichten zunichte gemacht.
"Ist alles okay?", flüsterte Ivory neben ihm.
Beinahe hätte er sie in seiner Wut vergessen. Das zarte Wesen, das ihn vor ein paar Minuten mit einer einfachen Berührung komplett durcheinander gebracht und ihm kurzzeitig Frieden gebracht hatte.
Einem inneren Instinkt folgend beschloss er etwas zu tun, das er lange nicht mehr getan hatte. Er antwortete so ehrlich, wie es ihm möglich war: "Nein, eigentlich ist es nicht okay. Ich werde quasi dazu gezwungen, morgen in das italienische Institut in Rom zurückzukehren. Diese Arschlöcher lassen mir nicht mal meinen freien Willen, verflucht!"
Ein bitteres Lachen bahnte sich seinen Weg, während Killian mit 120 km/h über eine Landstraße preschte. 

"Oh übrigens...", er griff in seine Manteltasche und reichte ihr wieder die schwarze Augenbinde. "Du darfst leider nicht sehen, wohin wir fahren, das Risiko wäre zu groß."
Ohne sich gegen seine Anweisung zu wehren band sie sich das Stück Stoff um den Kopf. Ein Teil von ihm war sogar froh, nun ihren bohrenden Blick nicht mehr auf sich spüren zu müssen, obwohl er sich sonst nach ihrer Aufmerksamkeit verzehrte.

"Wer zwingt dich dazu?", fragte Ivory nachdem sie eine Weile nicht miteinander gesprochen hatten, weil jeder seinen eigenen Gedanken nachging. Tiefes Bedauern schwang in ihrer Stimme mit.
Verwundert stellte Killian fest, dass ihr Interesse ehrlich war. Daher wollte er ihr mit der gleichen Ehrlichkeit begegnen. "Mein Vater."

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HOHOHO liebe Reader!

Danke fürs Lesen :)

Langsam scheinen bei Killian Gefühle für Ivory aufzukeimen, obwohl sich alles in ihm dagegen zu sträuben scheint...

Und, was haltet ihr vom letzten Satz? Habt ihr Vermutungen, was das bedeuten könnte??

Übrigens ist mir witzigerweise aufgefallen, dass einige Autoren auf Wattpad ihre männliche Hauptperson Killian genannt haben... Ist ein komisches Gefühl, ein Werk zu lesen und dann automatisch immer an die eigene Geschichte zu denken hahaha.

Alles Gute für euch,

Eure

Livia

Jägerin Band 1 - Zwilling *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt