XX - Kiss

55 8 13
                                    

Ivory stand vor dem großen Fenster des Krankenzimmers und blickte in den dunstigen Sonnenuntergang, ihren Morgenmantel fest um ihren geschundenen Körper geschlungen.
Während die Sonne langsam unterging, um den Einen die Nacht, den Anderen den Tag zu bringen, ließ sie mit letzter Kraft ihr Licht über all das Gute streifen. 

Doch sobald die Sonne untergegangen war, bot die Dunkelheit Nahrung für all das Schlechte. Es war beinahe, als würde jemand einen Schalter umlegen, um den Ausgleich der Natur herzustellen.
Ivory wunderte sich jedes Mal aufs Neue, dass sie von diesem Naturschauspiel niemals genug bekam. Denn es war der Kampf der Sonne und des Mondes, genauso wie der Kampf zwischen Menschen und Verwandelten, der im Grunde jeden einzelnen Tag über Leben und Tod entschied.

Kurz bevor der letzte, schwache Strahl über den ergrauenden Himmel leckte, klopfte es zaghaft an der Tür und jemand betrat den Raum.
Schon an der Art der Schritte und des unverkennbaren Dufts nach herbem Aftershave erkannte sie sofort, dass es sich um Damien handelte.

Zaghaft wandte sie sich um, begleitet von der Angst über seine Reaktion auf ihr Äußeres. Savio hatte mittlerweile einige der Verbände abgenommen, doch im Augenblick fühlte sie sich ohne deren Schutz unglaublich nackt und entblößt.
Tatsächlich konnte sie Damien ansehen, dass er scharf die Luft einzog, obwohl er offensichtlich wirklich versuchte, sich zusammen zu reißen.

"Hey Liebes. Killian hat mir erzählt, was passiert ist", begann er schließlich mit brüchiger Stimme. Sein Blick wanderte hilflos über ihre entblößte Haut und blieb schließlich an ihren unverletzten Füßen haften.
"Wow ich ... dachte nicht, dass es so schlimm ist", fügte er zögernd hinzu. Unruhig verlagerte er sein Gewicht von einem auf das andere Bein und fuhr sich unsicher durch sein blondes Haar.

"Jup, könnte besser laufen. Aber ich bekomme haufenweise Schmerzmittel aufs Haus, hat also auch was Positives an sich." Mühevoll versuchte sie, sich ein kleines Lächeln abzuringen, versagte jedoch kläglich. In Damiens Blick lag bloßes Entsetzten über ihren unpassenden Witz. 
"Ist das dein Ernst?" Seine Hand bewegte sich hilflos auf und ab, während er auf ihre Silhouette deutete. "Erst dachte ich, Killian übertreibt, aber jetzt-"

"Was ist jetzt, Damien? Seid ihr jetzt Freunde oder wie? Willst du dich auch noch gegen mich stellen?", zischte Ivory wütend. Ein erneut einsetzendes Pochen drückte auf ihren Hinterkopf, während sie Damien vernichtende Blicke zuwarf. Savio hatte erwähnt, dass so etwas vorkommen würde und sie gebeten, sich anschließend sofort hinzulegen. Aber jetzt gerade ignorierte sie seine Anweisung mit Freuden.

Der Schmerz ließ Ivory lebendig fühlen, auch wenn sie es nicht gerne zugab. Denn außer Schmerz kannte sie keine anderen Emotionen mehr. Spätestens seit dem erneuten Angriff ihres Bruders, war das einzig präsente Gefühl das unkontrollierbare Brennen auf ihrer Haut. Nur durch dieses Gefühl wusste sie, dass sie noch am Leben war, zumindest physisch. Deshalb hatte sie nur noch in äußerster Not Schmerztabletten genommen.

"Ich will mich jetzt wirklich nicht mit dir streiten, Ivy. Du solltest dich vielleicht ein bisschen hinlegen und ich erzähle dir von meiner interessanten Begegnung mit Killian gestern."
Seine Frage klang wie ein Vorschlag, war jedoch als Aufforderung gemeint. Doch augenblicklich stand Ivory der Sinn nicht nach Plaudern. 

Die ganze Zeit über beobachtete sie seine abweisenden Reaktionen und wusste ganz genau, dass er die Situation nicht billigte. Sie konnte beinahe spüren, wie er sich von ihr abwandte und zu Killian überlief. Und hierbei gab es nur zwei Parteien, entweder er war für oder gegen sie. 

"Reden wir doch lieber gleich Klartext", antwortete sie harsch. Eigentlich wollte sie nicht gemein sein, aber der intensive Cocktail aus Schmerzen, Wut und Medikamenten machten eine andere Person aus ihr. Zumindest war es das, was sie sich einreden wollte.

Jägerin Band 1 - Zwilling *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt