IX - Kampf

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Als Ivory einige Stunden später durch das Läuten ihres Handys geweckt wurde, hatte sie größte Mühe, ihre schmerzende Glieder zu bewegen. Sie fühlte sich schwach und hilflos, wie immer nach einer Panikattacke. Es grenzte beinahe an ein Wunder, dass sie trotz der körperlichen Strapazen danach eingeschlafen war.

Mit zitternden Händen griff sie nach dem Handy und nahm den Anruf entgegen, obwohl die Nummer unterdrückt war.
"Hallo?", brachte sie schwach hervor. Auf der anderen Seite der Leitung war es kurzzeitig ruhig und sie hätte beinahe wieder aufgelegt, als der Anrufer schließlich sprach.
"Hier ist Killian", tönte seine angenehme Stimme durch den Lautsprecher. Sie schloss die Augen und fühlte merkwürdigerweise, wie sich eine tiefe Ruhe in ihrer aufgewühlten Seele ausbreitete.

"Okay?", frage sie unsicher, als er nicht weiter sprach. Sie wollte unbedingt, dass er sie mit seinen wohligen Worten beruhigte.
"Ich möchte mich mit dir und Damien zu einem kleinen Training treffen, um eure Fähigkeiten zu erproben. Ich schicke dir den Standort. Passt euch 16 Uhr?" 
Ivory sah auf das Display. Es war schon 14.45 Uhr und sie wusste bereits jetzt, dass sie keinen besonders fitten Eindruck machen würde, wenn sie in ihrem Zustand trainieren würde.
"Ich glaube, heute ist es ungünstig...", setzte sie müde an.
"Wann ist schon jemals ein günstiger Zeitpunkt? Ich dachte du hast es eilig, deinen Bruder zu finden?", unterbrach Killian sie harsch.
Er hatte ja recht. "Also gut, wir werden da sein", gab sie seufzend nach. Ohne ein weiteres Wort legte er auf.
Mühsam schrieb sie eine kurze SMS mit den wichtigsten Infos an Damien, bevor sie sich träge ins Bad schleppte.

Im Spiegel blickten ihr glasige, blaue Augen entgegen, die von dunklen Ringen umrahmt und vom weinen verquollen waren. Ihr langes, dunkelbraunes Haar war durchzogen von Knoten und stand wirr vom Kopf ab. Auf ihrer Unterlippe war verkrustetes Blut. Wahrscheinlich hatte sie sich während der Panikattacke selbst gebissen, das war schon des Öfteren vorgekommen.
Sie betrachtete sich nie gerne im Spiegel. Zu sehr erinnerte sie ihr eigenes Gesicht an das ihres Zwillingsbruders. 

Vorsichtig entfernte sie den Verband an ihrem Hals, den sie in den letzten Tagen immer mit einem Schal kaschiert hatte, damit niemand dumme Fragen stellte. Der Biss darunter schien bereits zu verheilen, der blaue Fleck war jedoch immer noch deutlich zu erkennen.
Beinahe traurig realisierte sie, dass sie ihr Aussehen heute wohl nicht mehr retten konnte, deshalb stellte sie sich einfach unter den heißen Wasserstrahl der Dusche und wusch oberflächlich den Schmerz der letzten Stunden ab.
Wenigstens sieht Killian mein wahres Ich dann gleich zu Beginn, dachte sie sarkastisch.

Kurz vor 16 Uhr traf sie Damien einige Meter vor dem vereinbarten Treffpunkt, der mitten im Wald zu sein schien. Skeptisch blickten sich Ivory und ihr Freund an.
"Wir sollen im Wald trainieren?", fragte er zweifelnd. "Es wird in nicht mal einer Stunde schon dunkel, außerdem ist es schweinekalt."
"Vielleicht hat er sich diesen Ort ausgesucht, damit er uns leichter töten kann", sagte sie zum Spaß, erntete für ihre Bemerkung jedoch vernichtende Blicke von Damien.
Seufzend ging sie voraus.

Als sie den Wald betrat, wurde sie von Dunkelheit umhüllt. Entfernte Geräusche schienen hier keinen Platz zu finden, denn die Stille beanspruchte jeden Raum für sich.
Beinahe ehrfürchtig schritten sie durch das Unterholz, über umgefallene Bäume und schneebedeckte Sträucher.
In der Ferne erkannte Ivory ein Licht, das ihr Ziel zu sein schien. Sie beschleunigten ihre Schritte, weil die Kälte unangenehm an ihren fröstelnden Körpern nagte. Obwohl sie darauf hoffte, in einem geheizten Gebäude trainieren zu können, wusste sie innerlich, dass die Kälte für die nächsten Stunden ihr Begleiter sein würde.

Das entfernte Licht entpuppte sich als Scheinwerfer eines Range Rovers, an dem Killian lässig lehnte und eine Zigarette rauchte. Er trug trotz der Kälte nichts weiter als eine dunkle Jeans, ein schwarzes Shirt und Sneaker. Vielleicht hat er sich in der Jahreszeit geirrt, dacht Ivory belustigt.

"Habt euch ja ganz schön Zeit gelassen", meckerte er schließlich, als sie ihn erreichten. Gerne hätte Ivory einen schnippischen Kommentar auf ihn losgelassen, doch sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt so etwas wie Humor besaß. 
Wie eine Raubkatze bewegte er sich aus dem Lichtkegel des Autos und blieb vor ihnen stehen. Endlich konnte sie wieder seine wunderbaren Augen betrachten, die ihren Blick festhielten.
"Ausziehen", befahl er schließlich. Als die Worte endlich in ihren Verstand sickerten, hob sie fragend eine Augenbraue.
"Nur eure Jacken, Schals und Mützen, natürlich. Den Rest dürft ihr anbehalten", fügte er hinzu. Ivory meinte, ein schmales Grinsen auf seinem Gesicht erkennen zu können. 

Obwohl sie bereits froren, folgten sie und Damien seiner Anweisung ohne Widerspruch. Es schien beiden falsch, sich gegen Killians Worte zu sträuben. 
Langsam entledigte sie sich ihrer Kleidung, wobei Killian sie nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Als sie ihren Schal abnehmen wollte, zögerte sie.
Da ihre Wunde bereits zu heilen begann, hatte sie keinen neuen Verband verwendet. Wenn sie den Schal jetzt abnahm, würde er wissen, was passiert war.
Was habe ich denn zu verlieren, dachte sie seufzend und entledigte sich auch ihres Schals. Vielleicht sah er den Biss in der Dunkelheit gar nicht, immerhin stand er einige Meter von ihr entfernt. Ihr zerstreutes Aussehen schien er ja auch nicht zu bemerken.

"Also gut", begann er schließlich, "wir fangen mit einem Nahkampf an. Jeder von euch tritt einmal gegen mich an, damit ich eure Fähigkeiten einschätzen kann. Damien, wir starten."
Killian ging zu seinem Wagen, holte vier Messer heraus und losch das Licht der Scheinwerfer. Urplötzlich wurde es stockdunkel und es dauerte einen kurzen Moment, bis sich ihre Augen an die Schwärze des Waldes gewöhnt hatten. 
Killian reichte Damien zwei der Messer und stellte sich in einigem Abstand ihm gegenüber auf. Beide positionierten sich in einer kampfbereiten Haltung. Die beruhigende Stille des Waldes wurde kurz darauf von Kampfgeräusche abgelöst.
Mit klopfendem Herzen beobachtete Ivory, wie Damien und Killian aufeinander losgingen. Der Kampf bereitete ihr Unwohlsein, immerhin benutzten beide echte Waffen. 

Aufgeregt beobachtete sie das Geschehen und zuckte erschrocken zusammen, als Killian ihrem Freund, in einem unaufmerksamen Moment, eine Schnittwunde am Arm verpasste. Damien verzog schmerzvoll das Gesicht, ließ sich davon jedoch nicht beirren und ging gleich wieder auf seinen Gegner los.
Killian bewegte sich anmutig und schnell, schon nach wenigen Minuten hatte er die Oberhand gewonnen. Ivory betrachtete das Spiel seiner Muskeln mit tiefer Konzentration und bemerkte deshalb erst spät, dass Damien den Kampf verlor, als er zu Boden fiel und Killian ihm eines seiner Messer an die Brust setzte.

"Das war als Einstieg gar nicht mal schlecht", sagte er und half Damien wieder auf die Füße.
Ihr bester Freund ließ sich schwer atmend auf einen Baumstamm fallen, während Killian nicht mal ansatzweise aus der Puste war.
Sein Blick fiel auf Ivory, der plötzlich die Eiseskälte wieder allzu deutlich bewusst wurde. Auffordernd reichte er ihr die Messer, die sie zaghaft ergriff. Unsicherheit überkam sie, als sie die schweren Waffen entgegen nahm. Sie hatte erst wenige Male probiert, mit Messern zu kämpfen, sich jedoch aus gutem Grund für ihre Beretta entschieden. Die ließ es nämlich zu, aus der Distanz zu töten, so konnte sie diesen Monstern so weit wie möglich fern bleiben.

Zögernd trat sie Killian gegenüber, der ihr plötzlich unglaublich groß und angsteinflößend erschien. Genau wie Damien vorher, nahm sie eine abwehrende Haltung ein und beschloss, Killian den Anfang machen zu lassen. 
Seine Augen glitzerten gefährlich, als er auf sie zugestürzt kam. Wie in einem tödlichen Tanz verstrickt, blockte sie seine Angriffe ab und versuchte einen heimtückischeren Weg zu finden, ihn zu bezwingen. Sie wusste genau, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen würde, lächelte jedoch sadistisch, als sie ihm schließlich eine leichte Schnittwunde am Bein zufügte.
Doch Killian ließ sich nicht ablenken und nutzte ihren Triumph aus, indem er sie wie eine Puppe herumwirbelte und das eine Messer gegen ihren Brustkorb, das andere gegen ihren Hals presste. 
Sie keuchte erschrocken auf, als sich die kalte Klinge schmerzhaft gegen ihre Wunde bohrte. Plötzlich wurde ihr auch die unglaublich Nähe bewusst, die er zwischen ihnen hergestellt hatte. Seine Brust lag an ihrem Rücken, sodass sie seinen leicht beschleunigten Herzschlag spüren konnte. Er roch unglaublich gut und obwohl er ihr zwei Messer gegen den Körper drückte, fühlte sie sich geborgen.

Abrupt ließ er sie los und wirbelte sie herum. Sein Gesicht war leichenblass, seine grünen Augen starrten entsetzt auf die Bisswunde.
"Was zum Teufel ist das an deinem Hals?", fragte er aufgebracht. Seine Stimme schien ruhig, dennoch schwang ein wütender Unterton mit.
Beschützend legte sie die Hand an ihren Hals und sah in seine erschrockenen Augen. Doch er schien weniger besorgt, als viel mehr zu tiefst erschüttert über seine Entdeckung.
"Mein Bruder hat mich angegriffen", flüsterte sie schließlich in die Ruhe des Waldes hinein.
Sein finsterer Gesichtsausdruck machte ihr Angst.

"Ich muss gehen", brachte er eilig hervor.
Schnell sammelte er seine Messer ein, während Ivory ihn ängstlich beobachtete. Sie verstand seine plötzliche Eile nicht im Geringsten. Was war bloß falsch mit ihr?
Der Motor des Range Rovers heulte auf, als Killian sich wie ein Irrer aus dem Staub machte. Damien stand beschützend neben ihr und starrte den kleiner werdenden Lichtern unfassbar hinterher.

Er hatte sie mitten in der Dunkelheit der Nacht alleine zurückgelassen, während tausend Fragen durch ihren Kopf schwirrten, die verzweifelt nach Antworten verlangten.

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Liebe Reader,

vielen Dank fürs Lesen, ich hoffe alles war soweit zu eurer Zufriedenheit ;)

Auf Anraten von @World_Wide_Web habe ich in diesem Kapitel mehr Paragraphen eingefügt, ich hoffe so lässt sich der Text noch leichter lesen :)

Die älteren Kapitel werde ich nach Fertigstellung des Buches auch noch einmal überarbeiten.

Herzlichst,

LiviaDV

Jägerin Band 1 - Zwilling *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt