X - Frust

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Frustriert schlug Ivory die Wohnungstür hinter sich zu.
"Kaum zu glauben, dass er uns mitten im Wald zurückgelassen hat!", rief sie Damien fassungslos hinterher, der sofort nach Betreten der Wohnung in der Küche verschwunden war. Sie hatte sich bereits die ganze Fahrt über Killians merkwürdiges Verhalten ausgelassen, doch ihre Rage schien heute keine Grenzen zu kennen.
In erster Linie ärgerte sie die Tatsache, dass sie all ihre Hoffnungen der vergangenen Jahre in diesen einen Mann gesteckt hatte und wieder einmal enttäuscht worden war.

Entspannt lehnte Damien an der Küchentheke, in der einen Hand eine Cola, in der anderen ein Sandwich. Er hörte sich ihre Schimpftirade in aller Seelenruhe an und biss dabei herzhaft in seinen Snack.
"Bist du jetzt fertig?", fragte er schließlich mit halb vollem Mund. Ivory nickte bestätigend und verschränkte genervt die Arme vor der Brust.
"Ich glaube, der Biss war der Auslöser für sein überstürztes Aufbrechen", sagte er schließlich überzeugt, als er sein Essen mit einem Schluck Cola heruntergespült hatte. Genüsslich aß er sein Sandwich auf, während Ivory ihm für diese Aussage am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Immerhin besprachen sie seit einer Stunde nicht anderes, als diese Theorie.

"Lass mich den Schnitt an deinem Arm desinfizieren", murmelte sie schließlich genervt, um das Thema zu wechseln und sich von ihrer Frustration abzulenken.
Murrend folgte Damien ihr ins Bad und ließ sich von Ivory die Wunde reinigen. Dabei beobachtete er seine Freundin eindringlich.
"Ist alles okay? Du siehst erschöpft aus." Zärtlich strich er ihr mit seiner freien Hand ein widerspenstiges Haar hinters Ohr.
"Die letzten Tage haben mir jeden Nerv geraubt", antwortete sie kurz, während sie seine Verletzung mit Wundnahtstreifen fixierte. Den Teil mit der Panikattacke ließ sie lieber weg. Im Moment hatte sie wirklich keine Lust auf sein Mitleid.
Damien nickte verständnisvoll. "Nimm dir die Situation nicht zu sehr zu Herzen, Ivy."

Das versuchte sie ja verzweifelt. Aber innerlich musste sie sich eingestehen, dass ihre labile Psyche Schuld an dieser aussichtslosen Lage war. Sie fühlte sich so einsam, so verloren, dass selbst ein Fremder ihr mehr Hoffnung auf die Lösung ihrer Probleme gegeben hatte, als alles andere in den letzten Jahren.
Ohne Killian - den sie erst seit drei Tagen kannte -, spürte sie eine drängende Verzweiflung in sich aufkommen, die ihr die Luft zum Atmen nahm.
Sie fühlte sich wie ein kleines Kind: unwissend, naiv, schwach. Attribute, die sonst eigentlich nicht auf ihre Person zutrafen.
Und dabei hatte sie so viele Fragen an ihn gehabt. Fragen, die wahrscheinlich nur er hätte beantworten können.

Die nächsten Tage verbrachte Ivory in einem unruhigen Trance-Zustand. Immer wieder stellte sie sich die Frage, wie sie in diese Lage geraten war.
In gewisser Hinsicht war sie enttäuscht über sich selbst und die aufkeimenden Gefühle gegenüber Killian und seiner Reaktion im Wald. Sie verstand selbst nicht, warum seine Abwesenheit sie so sehr belastete, gerade weil sie ihn doch erst seit ein paar Tagen kannte.
Es schien, als hätte sie ihre einzige Chance auf Unterstützung vertan.

Wie in einem tiefen Loch gefangen weigerte sie sich, aus ihrem Bett aufzustehen. Das Schlafzimmer war für sie der sicherste Ort in dieser verdammten Welt geworden, warum also sollte sie es verlassen?
Glücklicherweise verbrachte Damien die meiste Zeit bei Crystal – was ihr nur recht war. So konnte sie in aller Ruhe in Selbstmitleid baden und die Welt ausblenden.
Ihr Handy vibrierte, als sie gerade dabei war, wieder einzuschlafen. Ihr Körper schien sich nach Schlaf zu verzehren, wie ein Drogenabhängiger nach Heroin.
Abwesend nahm sie ihr Handy vom Nachtkästchen und entzifferte mit halb geschlossenen Augen die Nachricht auf dem Display.
Unbekannte Nummer.
Augenblicklich war sie hellwach und scrollte durch die verpassten Anrufe, die ihr angezeigt wurden. Vier Anrufe gestern, zwei heute. Und eine SMS.
Scheinbar war sie so in ihrer eigenen Welt versunken gewesen, dass sie nichts davon mitbekommen hatte.
Zittrig öffnete sie die SMS und las sie laut vor, um sich selbst von der Echtheit zu überzeugen: „Wir müssen reden. Ich komme um 20 Uhr vorbei". Als sie den Namen des Absenders las, setzte ihr Herz eine Sekunde lang aus. Killian.

Einen Blick auf die Uhr werfend schälte sie sich aus dem Decken-Gewirr und eilte ins Badezimmer, um sich frisch zu machen.
Schwarze Flecke tanzten vor ihren Augen, als sie zwanzig Minuten später die Dusche verließ und sich schwer atmend am Waschbecken abstützte, bis ihre Sicht wieder klarer wurde.
Es wunderte sie kaum, dass ihr Kreislauf versagte, immerhin hatte sie sich seit Tagen nicht bewegt, geschweigedenn etwas gegessen.
Gerade als sie sich etwas anziehen wollte, läutete es an der Tür. Nervosität breitete sich in ihrem Magen aus, während sie eilig in bequeme Unterwäsche schlüpfte und ein graues Strickkleid überwarf.

Barfuß tapste sie zur schweren Holztür und öffnete diese, gerade als Killian zum zweiten Klingeln ansetzte.
Wie versteinert blieb sie im Türrahmen stehen und betrachtete den Mann, von dem sie vermutet hätte, ihn nie wieder zu sehen.
Es überraschte sie nicht im Geringsten, dass er ihre Adresse kannte, vielmehr aber verwunderten sie die weißen Tüten, die er in den Händen hielt.
"Ich habe Essen mitgebracht", sagte er und hob demonstrativ die Tüten hoch.
Kurz überlegte Ivory, ihm die Tür vor der Nase zuzuknallen. Nach all den Strapazen, die sie seinetwegen hatte durchleiden müssen, schien ihr das ein fairer Ausgleich. Da sie ihr Glück jedoch nicht noch einmal auf die Probe stellen wollte, trat sie zögernd einen Schritt zur Seite und gab den Weg in ihre Wohnung frei.
Beinahe unsicher suchte er ihr Gesicht nach Gefühlsregungen ab, ehe er den Flur betrat und den aromatischen Duft von asiatischem Essen herein trug.
Ivorys Magen knurrte bestätigend, was Killian ein sanftes Lächeln entlockte. Das wird dir noch vergehen, dachte sie schnippisch.

Ivory hatte noch kein Wort mit ihm gesprochen, als sie schließlich die kleinen Boxen auf ihrem Esstisch öffnete, um sich einen Überblick von den duftenden Gerichten zu verschaffen. Er hatte genug Essen für vier Personen gekauft, was ihm einen kleinen Pluspunkt auf seiner langen Liste von Minuspunkten einbrachte.
Still beobachtete er sie, während sie sich über eine dampfende Portion Hühnchen süß-sauer hermachte. Sie würde ihm nicht die Genugtuung verschaffen, die Konversation zu beginnen, also lies sie sich nicht von seinem eisernen Blick beirren.

"Es tut mir leid, dass ich euch im Wald stehengelassen habe. Bestimmt hast du dich gefragt, warum", begann er seufzend. Seine Stimme hatte einen weichen Unterton angenommen, wahrscheinlich, um ihr damit die Wut auf ihn zu nehmen. Aber Ivory hatte sich geschworen, seinem schönen Äußeren keine Beachtung mehr zu schenken und seiner Manipulation zu widerstehen. In dieser Version der Geschichte war er eine schöne Sirene und sie der naive Odysseus.

"Ich will dir erklären, warum ich so reagiert habe", fuhr er fort, als sie weder antwortete, noch den Blick vom Essen hob.
Mittlerweile hatte sie bereits zwei Kartons komplett geleert und machte sich gerade über den dritten her. Dass sie dabei nicht besonders damenhaft aussah, interessierte sie reichlich wenig.
"Verdammt Ivory!", rief er schließlich und knallte mit der Faust frustriert auf den Tisch. Bei der Nennung ihres Namens überlief sie ein Schauer, den sie vorerst zu ignorieren gedachte. Ihre gesamte Energie galt aktuell ihrer aufkeimenden Wut.
Selbstischer sah sie endlich auf und starrte zornig in seine verfluchten Augen.
"Was!? Was ist das verdammte Problem mit mir!?", schrie sie ihn an. Ihre Stimme schien stark, doch sie fühlte sich unglaublich schwach. Tränen kämpften sich ihren Weg an die Oberfläche, doch sie schluckte sie zusammen mit ihrer Frustration herunter. Was stimmte denn nur nicht mit ihr?

Killians Gesichtsausdruck wechselte so häufig, dass es ihr misslang, seine Gefühle zu deuten.
"Ich muss alles über deine Vergangenheit wissen", antwortete er langsam und sah Ivory dabei tief in ihre blauen Augen, die sich wieder mit Tränen zu füllen begannen.
"Warum zum Henker sollte ich das tun?", fragte sie mit zitternder Stimme. Ihre Aggression war zwar etwas abgeklungen, doch Wut beherrschte immer noch ihre Worte.
Zu ihrer Überraschung stand er auf, setzte sich auf den Stuhl neben ihr und berührte sanft ihren Hals mit seinen Fingern. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich unter seiner Berührung aus, ehe er flüsterte: "Es gab noch nie einen Menschen, der nach einem Biss überlebt hat und nicht infiziert wurde".
Ivory schluckte schwer, als seine alles verändernden Worte sie erreichten.

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Liebe Leserinnen und Leser,

ich danke euch von ganzem Herzen für mittlerweile über 400 Reads!! Ich weiß, auf Wattpad ist das nicht viel, aber mir bedeutet es die Welt.
Außerdem heißt es ja so schön: Qualität vor Quantität :)!

Was denkt ihr, könnten Killians letzte Worte für Ivory bedeuten?

Ich freue mich schon sehr auf das kommende Kapitel am Mittwoch - dort werden so einige offene Fragen geklärt und verborgene Geheimnisse aufgedeckt!

Ich wünsche euch einen schönen Sonntag und entspannten zweiten Advent,

Eure LiviaDV

Jägerin Band 1 - Zwilling *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt