II - Zuhause

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Ivory lag mit offenen Augen auf der Straße. Sie wusste, dass sie vielleicht erfrieren würde. Aber sie besaß einfach keine Kraft, um sich zu erheben. Ihr Mund war trocken von der kalten Luft, aber sie konnte ihn nicht schließen. Das Schlimmste jedoch, war die eisige Kälte. Sie spürte, wie der Schnee sie langsam aber sicher unter sich begrub. Ihre Gedanken drehten sich wie wild. Sie musste aufstehen, musste nach Hause gehen und ihre Wunde versorgen.
Ihre Waffe lag noch immer in ihrer Hand. Zitternd schloss sie ihre eisigen Finger um den gefrorenen Griff der Pistole. Diese kleine Bewegung gab ihr Kraft. Und Macht.  
Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm Sie einen tiefen Atemzug und bewegte ihre Arme, dann ihre Beine. Es dauerte eine Weile, bis sie endlich aufrecht stand.
Geraume Zeit später betrat sie das alte Gebäude, in dem sie wohnte. Im Foyer empfing sie der typisch modriger Geruch des alten Gemäuers. Ivory mochte diesen Geruch, denn er gab ihr das Gefühl von Sicherheit. Oft fragte sie sich, wer wohl vor hundert Jahren hier gelebt hatte, oder wer hier bereits gestorben war. Außer ihren sanften Schritten auf dem weißen Marmor war nichts zu hören und hinter den dunklen Holztüren schien niemand wach zu sein. Kein Wunder, immerhin war es mitten in der Nacht.
Gerade als sie die wenigen Stufen zum Fahrstuhl hinaufsteigen wollte, wurde Ivory plötzlich schwarz vor Augen und ihre Beine versagten ihr den Dienst. Hilfesuchend streckte sie die Hände nach etwas aus, an dem sie sich festhalten konnte. Aber sie griff ins Leere und stürzte zu Boden. Als sie auf dem harten Marmor auftraf, riss sie sich an einer spitzen Kante die Handflächen auf. Na toll, das hat jetzt gerade noch gefehlt, dachte sie sich bissig. Der Aufprall würde zusätzlich noch einige blaue Flecken hinterlassen, vor allem an ihren Knien. Es dauerte kurz, bis die Flecken vor ihren Augen verschwanden und sie wieder klar sehen konnte. Schwer atmend rappelte sie sich wieder auf und ging mit langsamen Schritten zu dem alten Fahrstuhl. Normalerweise ging sie zu Fuß zu ihrer Wohnung im Dachgeschoss, aber das kam ihr im Moment reichlich dämlich vor. Außerdem war sie so unglaublich müde. Es kostete sie schon immens viel Kraft, den Knopf des Fahrstuhls zu drücken. Doch als sie dann vor ihrer Wohnungstür stand, war sie froh, nicht mehr auf dem gefrorenen Weg zu liegen und unter Neuschnee begraben zu werden. Das wäre ein ziemlich fader Tod für ihr eher aufregenden Leben.
Ihre Hand zitterte, als sie den Schlüssel aus ihrer Hosentasche zog und die Tür aufsperrte. Wärme empfing sie und sie lobte sich im Still selbst dafür, die Heizung angelassen zu haben. Mit letzter Kraft warf sie die Tür hinter sich zu und ließ sich auf die Couch fallen, die unter einem großen Fenster stand, von dem aus man den Mond sehen konnte. Sofort fiel Ivory in einen tiefen, bodenlosen Schlaf.

Es war wieder einer dieser Tage, an dem ihr Vater zu spät nach Hause kam. Ivory, ihr Zwillingsbruder Elian und ihre kleine Schwester Grace standen am Fenster in der Küche und blickten auf die Straße vor ihrem Haus. Es roch bereits überall nach dem leckeren Braten, den es jeden Samstagabend gab. Wie immer hoffte Ivory, dass ihr Vater pünktlich zum Tischgebet da sein würde und meistens war er auch rechtzeitig gekommen. Ein Abendessen ohne ihn zu beginnen, käme ihr falsch vor.
Elian trug die kleine Grace auf seinem Arm und starrte neben ihr auf den dunkler werdenden Himmel. Grace sah aus wie ein kleiner Engel. Ihre kurzen blonden Locken umrahmten ihr kindliches Gesicht und ihre großen Augen suchten ebenfalls die Straße ab. Wie jeden Samstag trug sie ein rosa Kleidchen mit weißen Rüschen am Kragen. Sie legte ihren kleinen Kopf an die breite Schulter ihres Bruders, während mit ihrem Schnuller spielte.
Elian drehte sich zu Ivory um und lächelte sie zärtlich an. Das Gesicht ihres Bruders war dem ihren so ähnlich. Sie beide besaßen dunkelbraunes, lockiges Haar und die markanten blauen Augen ihrer Mutter. "Himmelsaugen", sagte ihr Vater immer. Auch die Mädchen an ihrer Schule fanden ihren Bruder sehr attraktiv, das wusste sie trotz ihrer 14 Jahre genau. Ihr hingegen wurde nicht sonderlich viel Beachtung geschenkt, was sie ein bisschen traurig stimmte.

"Er kommt schon noch", lenke Elian ein. Ivory nickte zustimmend. Ihr Bruder sagte immer die Wahrheit und hatte sie noch nie enttäuscht.
"Kommt, setzt euch schon mal an den Tisch. Euer Vater ist bestimmt gleich da", rief ihre Mutter aus der Küche.
Elian wandte sich vom Fenster ab und strich im Vorbeigehen mit seiner freien Hand über Ivorys Kopf. Obwohl sie gleich alt waren, überragte er sie bereits um gute 20 cm, sodass sie sich immer wie seine kleine Schwester fühlte, nicht wie sein Zwilling. Deshalb schlug sie seine Hand sanft weg und folgte ihm wortlos ins Esszimmer. Dort fand sie einen hübsch gedeckten Tisch vor, der mit Kerzen, weißen Stoffservietten und dunkelroten Tischsets dekoriert war. Elian setzte Grace in den Kinderstuhl und nahm ihr den Schnuller aus dem Mund. Sofort begann sie einzelne Wörter zu brabbeln und zu kichern. Mit ihren kleinen Händen griff sie nach allem, das sich in ihrer Reichweite befand. Elian lachte herzlich über seine kleine Schwester und auch Ivory wurde davon angesteckt. Ihre Mutter brachte den dampfenden Braten ins Esszimmer und stellte ihn in die Mitte des Tisches. Sie war wunderschön, ihre Mum. Sie lächelte beinahe immer und sah dabei aus wie ein Engel, der sich versehentlich auf der Erde verirrt hatte. 
Doch dann überschlug sich plötzlich der Traum und ihr Vater stand plötzlich im Wohnzimmer. Grace schrie glücklich, doch Ivory wusste, dass etwas nicht stimmte. Seine Augen sehen so merkwürdig aus, dachte sie. Und im Sekundenbruchteil brach die Hölle über ihre Familie herein...

Jägerin Band 1 - Zwilling *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt