VII - Killian

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Nach einer unruhigen Nacht wurde Ivory am Tag darauf von einfallenden Sonnenstrahlen geweckt, die auf ihrem Gesicht ruhten. Sie drehte sich stöhnend um und zog die Decke über den Kopf, um den natürlichen Wecker davon abzuhalten, seinen Job zu tun. Innerlich gab sie sich selbst die Schuld für diese Situation, da sie vergangene Nacht vergessen hatte den Vorhang zu schließen.
Als sie gerade dabei war, sich zurück in die offenen Arme des Schlafes zu begeben, hörte sie wie etwas laut scheppernd zerbrach. Genervt vergrub sie ihr Gesicht in dem weichen Kissen und stöhnte erschöpft hinein, obwohl das Kissen gar nichts für die Situation konnte. Leider nur war sie nicht fähig noch eine weiteren Einschlafversuch zu starten, also setzte sie sich langsam auf. Träge schlüpfte Ivory in ihre flauschigen Hausschuhe und schlürfte in die Küche, nicht fähig einen einigermaßen intelligenten Gedanken zu fassen.
Über einem Scherbenhaufen kniend sammelte Damien die Reste einer Tasse vom Boden auf. Unbeeindruckt ging sie an ihm vorbei und schenkte sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein. In einem Zug leerte sie den Becher, verbrannte sich dabei leicht die Zunge, und brachte schließlich doch noch ein "Guten Morgen" hervor. Wahrscheinlicher war es jedoch, dass es bereits früher Nachmittag war. Doch kein Mensch sagte "Guten Nachmittag", wenn er gerade aufgestanden und noch nicht richtig bei Sinnen war.
"Mir ist die Tasse runtergefallen", erklärte Damien. Wenn Ivory schon wacher gewesen wäre, hätte sie ihn mit dieser unnützen Info aufgezogen, stattdessen hob sie nur bestätigend eine Augenbraue. Er erhob sich und warf die größeren Scherben in den Mülleimer. Unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab.
Während sich Ivory eine zweite Tasse Kaffee eingoß und dabei penibel drauf achtete, nichts zu verschütten, warf sie einen kurzen Blick auf ihre Couch, auf der eine zerwühlte Decke und ein Kissen lagen. Vielleicht hatten ihn die Ereignisse der letzten Nacht vom Schlafen abgehalten.
"Kein Problem. Konntest du nicht schlafen?", fragte sie schließlich.
Er schüttelte den Kopf und holte eine Kehrschaufel, um die Rest seines morgendlichen Debakels zu beseitigen. Sie konnte ihm ansehen, dass ihm viel im Kopf herumschwirrte, wusste jedoch gleichzeitig, dass er seine Gedanken nicht mit ihr teilen würde.

"Kann ich duschen?", frage er, statt weiter auf ihre Frage einzugehen.
"Mal im Ernst Dam, findest du es mittlerweile nicht ein bisschen lächerlich, dass du dafür mein Einverständnis willst? Du machst dir ja auch deinen Kaffee, ohne mich vorher zu fragen."
"Na ja, den Kaffee mache ich ja in erster Linie für dich. Ich weiß doch, dass du nicht ansprechbar bist, ohne Koffein nach dem Aufstehen. Außerdem beteilige ich mich ja auch nicht an deinen Nebenkosten. Also finde ich es durchaus berechtigt, dich vorher um Erlaubnis zu fragen."
Ivory rollte mit den Augen, was er wohl als Einverständnis seiner Aussage betrachtete, denn er verschwand sofort im Bad.

Versunken in Gedanken hörte Ivory ihr Handy erst läuten, als der Ton immer lauter wurde. Schnell eilte sie zum Couchtisch, wo sie es in der Nacht zuvor achtlos liegen gelassen hatte. Auf dem Display erschien Harrys Name mit einem Pistolen-Emoji daneben. Sie nahm den Anruf eilig entgegen und lauschte der flüsternden Stimme von Harry, der sich wie immer benahm, als würde er die Menschheit verraten.
"Mein italienischer Lieferant hat sich vorhin gemeldet, um sich für 17 Uhr anzukündigen. Wenn du ihn kennen lernen willst, ist das womöglich deine einzige Chance."
"Wir sind pünktlich da", antwortete Ivory knapp, schob dann jedoch ein Dankeschön hinterher.

Ohne zu Klopfen öffnete sie die Tür zum Badezimmer und wurde von einem Schwall Wasserdampf begrüßt. Damien stand mit einem weißen Handtuch um die Hüften vor dem Waschbecken und wischte mit seiner Hand über den beschlagenen Spiegel. Aus seinen Haaren tropfte Wasser auf seine muskulöse Brust.
"Was ist?", fragte er nicht besonders freundlich.
"Harry, Lieferant, 17 Uhr. Vorher solltest du noch etwas schlafen, du siehst echt beschissen aus", war alles, was sie sagte. Als sie das Bad - das aktuell eher einer Sauna glich - wieder verließ, spürte sie Damiens vorwurfsvollen Blick in ihrem Nacken.

Als sie einige Stunden später Harrys Laden erreichten, war es kurz vor fünf. Ivory und Damien taten so, als würden sie sich brennend für verschiedene Wurfmesser interessieren, während Harry wie immer hinterm Tresen stand und in der heutigen Zeitung blätterte. Die Situation hatte etwas von einer schlechten Reality Show, in der Ivory und Damien die eher mäßigen Schauspieler darstellten.
Haar genau um 17 Uhr erklang die Glocke über der Tür und ein junger Mann, der in einen edlen schwarzen Mantel gehüllt war, betrat den Laden. 
Ivory blieb der Mund offen stehen, als sie sah, wer der "geheimnisvolle" Lieferant war. Auch er erkannte sie sofort, doch keiner sagte etwas. Harry bemerkte die seltsamen Blicke, die sich die beiden zuwarfen, konnte die Situation jedoch nicht richtig einordnen.
"Meine Warnung scheint also auf taube Ohren gestoßen zu sein", sagte der Fremde schließlich. Seine Stimme war wie eine Droge: tief, berauschend, intensiv. Ivory konnte sie seit der letzten Nacht nicht aus ihrem Gedächtnis verbannen.
"Wir haben die Warnung zwar eher als Drohung aufgefasst, aber dennoch zur Kenntnis genommen." Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Statt ihr zu antworten, schwieg ihr Fremder und wandte sich an Harry. 
"Ich dachte, Sie wollten einen Deal für neue Waffen mit mir aushandeln. Nur, so wie ich das sehe, halten Sie nicht viel von Diskretion. Daher sehe ich davon ab, weiterhin mit Ihnen Geschäfte zu machen." 
Dieser arrogante Idiot, dachte Ivory wütend. Er war nicht einmal auf ihre Worte eingegangen, hatte sie ignoriert, als wäre sie ein kleines quengliges Kind! Doch bevor sie ihn beschimpfen konnte, machte sich der Italiener einfach aus dem Staub, während Harry ihm sprachlos hinterher starrte.
Seine Stimmung schlug um, als der Mann den Laden verlassen hatte. "Bring das in Ordnung", zischte er Ivory wütend zu und deutete energisch Richtung Tür.

Eilig lief sie dem Unbekannten hinterher und wäre dabei fast auf dem gefrorenen Gehweg  ausgerutscht. Als er bereits die Tür zu seinem schwarzen Mercedes öffnete, erreichte sie ihn atemlos. Die Versuche nicht hinzufallen, hatten sie einiges an Energie gekostet.
Als er sie bemerkte lehnte er sich genervt an seinen Wagen. Kurz hatte sie Sorge, er würde einfach losfahren, ohne ihr Beachtung zu schenken. Er hatte ja bereits gezeigt, wie gut er im Ignorieren war.
"Tut mir leid, dass wir das Geschäft versaut haben. Das war wirklich nicht unsere Absicht." Er starrte sie finster mit seinen smaragdgrünen Augen an. Sie hatte das dumpfe Gefühl, seine Aufmerksamkeit würde gleich flöten gehen, wenn sie nicht eilig ihr Anliegen auf den Punkt brachte.

"Die Sache ist...", setzte Ivory an, bemerkte jedoch die Anspannung in seinem Gesicht. Also entschied sie sich für eine altmodischere Strategie. "Ich bin Ivory", stellte sie sich mit ruhiger Stimme vor.
Die Falte zwischen seinen Augenbrauen verschwand sogleich und sein Blick wurde weicher, wenn auch nur minimal. Er betrachtete sie abschätzig, als würde er versuchen, sie zu verstehen. "Killian", antwortete er schließlich kühl, während er eine Packung Zigaretten aus der Manteltasche holte. Gemächlich zündete er sich eine Kippe an und blies den Rauch in die kalte Winterluft. War ja klar, dass auch er nicht perfekt ist, dachte sie ein wenig enttäuscht.
"Also... Harry ist vielleicht ein bisschen überheblich, aber im Herzen ein guter Mensch. Unseretwegen das Geschäft sausen zu lassen scheint mir nicht besonders ökonomisch." Sie wartete auf eine Reaktion seinerseits, doch Killian zog nur erneut an der Zigarette.
"Ja, er hat mir von dem Treffen erzählt, aber nur weil ich ihn darum gebeten hatte", fuhr sie schließlich unbeirrt fort. "Damien und ich, wir haben uns alles was wir wissen selbst angeeignet. Sicherlich sind wir keine Profis, aber wir geben unser Bestes und..."
Mit einer energischen Handbewegung unterbrach er sie. "Warum tut ihr das? Warum bringt ihr euch in solche Gefahren, wenn ihr doch beide viel zu unerfahren seid?"
Die Frage brachte sie aus dem Konzept und sie wusste, dass Killian ihr das ansah. Kurz überlegte sie, welche Lüge sie ihm auftischen sollte, um ihn auf ihre Seite zu ziehen. Überraschenderweise entschied sie sich für die Wahrheit. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie ihn sowieso nicht belügen konnte.
"Mein Zwillingsbruder wurde vor einigen Jahren verwandelt. Seither habe ich nach einer Heilungsmöglichkeit gesucht, jedoch erfolglos. Ich weiß ja noch nicht mal, wo er überhaupt ist." Ihre Stimme begann zu zittern, als sie unweigerlich Bilder jener schrecklichen Nacht vor sieben Jahren vor Augen hatte. Killian schien ihren inneren Kampf zu erkennen und agierte das erste mal menschlich, indem er zuerst sprach: "Warum sollte ausgerechnet ich euch dabei helfen?" Er schnippte den Stummel seiner Zigarette in einen Schneehaufen.
"Ich kenne keine anderen Jäger wie dich. Außerdem... schaffen wir das nicht allein." Ihre Stimme war lediglich ein leises Flüstern. Als sie ihren Blick hob, erkannte sie tiefe Traurigkeit in seinen Augen.



Jägerin Band 1 - Zwilling *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt