VI.II - Zedern

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Als Damien eine halbe Stunde später von der Schnellstraße ins Gewerbegebiet abfuhr, verlangsamte er seinen Wagen und schaltete bereits vor Erreichen der Lagerhallen die Scheinwerfer aus, damit man nicht vorzeitig auf sie aufmerksam wurde.
Vor einem rostigen Maschendrahtzaun, welcher ihr Jagdgebiet umzäumte, hielt er am Wegrand und sie stiegen aus.
Ivory packte einige der neuen Patronen in ihre Jackentasche und lud ihre Beretta. Damien hingegen öffnete den Kofferraum seines Mustangs und besah stolz sein Waffenarsenal, das sich unter dem Boden des Kofferraums befand. Beinahe zärtlich fuhr er mit der Hand über die verschiedenen Pistolen, Gewehre und Messer. Schlussendlich entschied er sich für eine Walther P99, während Ivory bereits die Gegend erkundete. 

Die nächtliche Dunkelheit wurde lediglich durch den Mond erhellt, doch das störte Ivory nicht. Seltsamerweise konnte sie schon seit ihrer Kindheit hervorragend bei Nacht sehen und je länger sie sich draußen aufhielt und sich auf die Natur einließ, desto schärfer wurden ihre Sinne. Sie roch Schnee, der bereits zu schmelzen begann und den unverkennbaren Duft von nassem Gras. 
Ein Windhauch kam auf und wehte ihr einen widerlichen Gestank entgegen. Angewidert verzog sie das Gesicht. Sie wusste sofort, um was für einen abscheulichen Geruch es sich handelte. Verwesung. Nicht weit entfernt mussten bestimmt ein dutzend Leichen liegen, und das nicht erst seit gestern.
Einige Meter entfernt entdeckte sie ein Loch im Zaun, durch welches sie klettern konnten, um das Sperrgebiet zu betreten.
"Damien?", flüsterte sie. Eigentlich bewegte sie nur schwach die Lippen, doch es war so ruhig, dass er es trotzdem hören konnte. Sie mussten beide vorsichtig sein, denn selbst wenn diese Monster im Blutrausch waren, konnten sie trotzdem um ein vielfaches besser hören als Menschen.Damiens Hand legte sich auf ihre Schulter, ein Zeichen dafür, dass er bereit war. Und sie war es auch. Mit dem Kopf deutete sie auf den Eingang im Maschendrahtzaun und Damien folgte ihr bedächtig.
Sie gingen eine ganze Weile schweigend nebeneinander her, dem bestialischen Geruch folgend, bis sie eine alte Lagerhalle in der Dunkelheit ausmachen konnten, deren Dach zur Hälfte eingestürzt war. Mit einigem Abstand duckten sie sich hinter einem Berg Autoreifen und beobachteten die Halle, oder was davon noch übrig war. Ivory versuchte, sich so viele Details wie nur möglich einzuprägen, um sich einen Plan zurecht zu legen, wie sie dort rein und wieder raus kamen, ohne dabei ein Körperteil zu verlieren.
Doch nichts regte sich. Kurz überlegte sie, ob sie falsch gelegen hatte, doch dann kroch ihr wieder der Gestank in die Nase.

Auf einmal wurde die Stille von knallenden Schüssen zerschnitten. Ivory sprang wie von der Tarantel gestochen auf und rannte ohne zu überlegen zum Eingang der Lagerhalle. Damien fluchte, lief ihr dann aber eilig hinterher. Sie griff sich ihre Waffe, die in ihrem Hosenbund eingeklemmt war und entlud sie. Wie ein Pfeil schoss sie auf das alte Gebäude zu, stieß die Tür ohne zu zögern auf und sicherte mit gekonnter Schnelligkeit ihre unmittelbare Umgebung ab. Doch da war nichts.
Durch die eingefallene Decke schien der Mond, sodass sie die Konturen der Halle gut erkennen konnte. In der Mitte standen einige kleine Tische, Stühle und zwei Sessel, die man kaum noch als solchen identifizieren konnte. Ansonsten war die Halle, bis auf einige herabgestürzte Metallträger, leer.
Ivory betrachtete den Boden, auf dem mehrere verwischte Spuren zu erkennen waren. Leise folgte sie den Spuren im Staub und wog ihr Gewicht vorsichtig bei jedem Schritt, damit sie nicht versehentlich Geräusche machte. Damien bedeutete sie mit einer Handbewegung, sich im hinteren Teil der Halle um zu sehen, während sie sich dem vorderen Teil widmete.
Vor einer angelehnten Tür blieb sie stehen und überprüfte die hölzerne Fläche auf Kratzer oder Blut. Zum Glück schien der Mond so hell, sodass sie die markante Delle in der Mitte des Holzes bemerken konnte. Jemand hatte sich mit Gewalt Zutritt zu dem Raum dahinter verschafft.
Erst jetzt, als Ivory langsam die Tür öffnete wurde ihr diese durchdringende Stille bewusst. Sie drückte ihr auf die Ohren und wenn nicht bald etwas geschah, würde sie noch laut schreien. Zudem war da noch dieser Gestank, der mittlerweile so intensiv war, dass ihr Magen rebellierte. Doch sie verdrängte all die Plagen und spähte durch den schmalen Türspalt in den dahinter liegenden Raum. Den Fußspuren am Boden nach zu Urteilen, hatte hier ein Kampf mit mindestens fünf Personen statt gefunden. Ihr Blick wanderte zur linken Wand. Dort klebte frisches, schwarzes Blut.
Na toll, es war schon jemand hier, dachte sie. Ivory war sich ziemlich sicher, dennoch hielt sie ihre Beretta fest umklammert. Langsam betrat sie den Raum und bereute es gleich darauf wieder. Im Bruchteil einer Sekunde drückte sich der Lauf einer Pistole in ihren Hinterkopf und ließ sie zusammenzucken. Ivory wurde nie überrascht, sie berechnete immer alle möglichen Handlungen und Folgen schon im Voraus. Doch dass sie nicht gehört hatte, wie sich jemand an sie heran geschlichen hatte, verunsicherte sie zusätzlich."Kein Mucks", raunte ihr eine tiefe, rauchige Stimme ins Ohr, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Ihr Puls beschleunigte sich unweigerlich und sie hielt ihre Waffe fest umklammert. "Eine falsche Bewegung und ich knall dich ab. Und jetzt gib mir deine Waffe." Die Hand des Mannes legte sich über ihre Beretta, dabei berührten seine kalten Finger die ihren und ließ ihren Puls noch höher schnellen. Sie war wie erstarrt, wie gebannt von der gefährlichen Situation und von dem Atem des Angreifers, der ihren Nacken streifte. Hoffentlich kam Damien nicht ausgerechnet jetzt...

"Ivy?", hörte sie sein Flüstern. Verdammt.
Im Bruchteil einer Sekunde bewegte sich der Mann hinter ihr und zielte mit ihrer Beretta auf den Kopf ihres besten Freundes, als dieser durch die Tür trat.
"Oh scheiße", war das Einzige, das Damien hervorbrachte, bevor er erstarrt seine Waffe fallen ließ und entsetzt in den Lauf ihrer Beretta starrte. Sekunden verstrichen, in der keiner etwas sagte. Vielleicht versuchte der Fremde die Situation einzuschätzen, um seine Handlung abzuwägen. Ivory vermutete, dass er ebenfalls ein Jäger war, den sie bei seinem Streifzug gestört hatten. Manche waren unberechenbar und machten auch vor Menschen nicht halt. Komischerweise beruhigte sich ihr Puls wieder. Ihr Gefühl sagte ihr, dass keine echte Gefahr bestand.
Und tatsächlich ließ der Mann beide Waffen abrupt sinken und stieß einen verächtlichen Laut aus. Ivory war sich sicher, ihn "Amateure" sagen zu hören.
Schnell drehte sie sich um und sah ihrem Angreifer endlich entgegen. Die Überraschung über die Wandlung der Situation stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mehr noch, als sie den Mann im dämmrigen Licht zum Ersten mal sah. Seine moosgrünen Augen, die von dichten Wimpern umrahmt waren, funkelten wie Smaragde in der Dunkelheit. Das schwache Licht brach sich an seinen markanten Wangenknochen und ließ ihn trotz seines finsteren Gesichtsausdruckes noch attraktiver erscheinen. Er sah aus wie ein gefallener Engel.
"Ihr könnt froh sein, dass ich schon alle erledigt habe. Das hier wäre wohl doch eine Nummer zu groß für euch gewesen", riss sie seine Stimme aus ihren Schwärmereien. Kaum zu glauben, dass sie vor ein paar Sekunden in Sorge um ihr Leben gewesen war und nun ihren Angreifer geradezu begaffte.
Als Damien endlich seine Sprache wieder fand, konterte er genervt: "Hey, wir jagen diese Monster schon länger, als es vielleicht den Anschein macht. Und dich haben wir noch nie in unserem Revier gesehen."
"Euer Revier?", fragte der attraktive Fremde und zog dabei spöttisch eine Augenbraue nach oben. "Ich glaube nicht, dass ihr ein Anrecht auf irgendetwas in dieser gottverlassenen Gegend habt." Die Belustigung in seiner Stimme schwang in Wut um. "Seid froh, dass ich eure Arbeit erledigt habe. Diese Biester hätten euch in sekundenschnelle zerfetzt."
Sein durchdringender Blick wanderte zu Ivory, die immer noch schweigend dastand und absolut nicht wusste, was sie erwidern sollte. Sie fühlte sich plötzlich nackt, als könne dieser Fremde durch sie hindurch sehen. Als könnte er all ihren Schmerz sehen. Und das gefiel ihr gar nicht.
"Wie viele sind es gewesen?", fragte sie schließlich, um die Stille erneut zu durchbrechen.
"Ich habe acht von ihnen getötet", kam die kühle Antwort.
Ivory hielt die Luft an. Acht!? Das wäre wirklich ihr Todesurteil gewesen. Wie um Himmelswillen hatte ein einzelner Mann acht dieser Monster umbringen können? An ihren besten Tagen hatte sie mit Damien zusammen drei, vielleicht vier gekillt.
Der Fremde streckte seinen Arm aus und reichte Ivory ihre Waffe. Dabei ließ er sie nicht eine Sekunde aus den Augen. Dankend nahm sie ihre Beretta entgegen und hielt seinem durchdringenden Blick tapfer stand.
Als der Unbekannte sich zum Gehen wandte, richtete er sein Wort an Damien. "Das hier ist kein Spielplatz für Adrenalinjunkies, verdammt. Schau zu, dass du deine Freundin von hier weg bringst."
Und dann war er so schnell verschwunden, wie er gekommen war und hinterließ einen herrlichen Zederngeruch inmitten des Gestanks.

Jägerin Band 1 - Zwilling *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt