XVIII.II - Schuld

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Erst als Savio einige Stunden später endlich die Verbände wechselte, wurde Ivory das Ausmaß ihrer Verletzungen deutlich bewusst. Unter dem weißen Mull versteckten sich tiefe, rote Bisse und mehr Blutergüsse, als sie zählen konnte.
Noch hatte sie keinem gesagt, was geschehen war, auch wenn Killian sie mehrmals danach gefragt hatte. Er schien jedoch zu begreifen, dass sie die Ereignisse erst einmal verarbeiten musste.

Außerdem konnte sie in seinen Augen sehen, dass er am liebsten sofort in eines seiner schicken Autos springen und ihren Angreifer zur Strecke bringen wollte, doch das konnte sie nicht zu lassen. Fieberhaft suchte sie nach Ausreden, um der Situation zu entgehen, doch sie zweifelte an ihren Fähigkeiten zu Lügen, weshalb sie lieber gar nichts sagte.

Stattdessen warf sie Killian regelmäßig verträumte Blicke zu, um die Erinnerung an den morgendlichen Kuss wieder aufleben zu lassen und Killian ruhig zu halten. Scheinbar funktionierte ihre Strategie, denn seit einigen Minuten saß er schweigend auf der anderen Seite des Raumes und betrachtete mürrisch die Arbeit seines Vaters.
Ihr wollte nicht in den Kopf gehen, warum die beiden sich nicht verstanden. Allem Anschein nach, schien Savio ein anständiger Mann zu sein und so gar nicht die niederträchtige Person, die sie sich anfänglich vorgestellt hatte.

"Hast du Schmerzen?", erkundigte er sich besorgt, während er den Verband um ihren Hals abnahm. 
Ivory versuchte, in ihren geschunden Körper hineinzuhören, spürte jedoch lediglich das unangenehme Brennen auf der Haut. Es fühlte sich einfach nur an, als wäre jede freie Stelle ihrer Haut mit offenen Wunden versehen. Nicht besonders angenehm, aber das würde schon verheilen.

"Nein, es geht schon", flüsterte sie unkonzentriert. Ein Ziepen an ihrem Hals ließ sie zusammenzucken. 
"Tut mir leid, der Verband hat in der offenen Wunde geklebt", erklärte er das unangenehme Gefühl.
Als der Verband komplett entfernt war und Savio zur Seite trat, um eine Wundsalbe zu holen, zog Killian plötzlich scharf die Luft ein. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als sein Blick auf Ivorys Kehle fiel. 

Plötzliche Unsicherheit überkam sie, da sie selbst nicht sehen konnte, wie schlimm sie wirklich aussah. Automatisch hob sie ihre Finger an das unangenehme Ziehen unter ihrem Kinn und zuckte erneut vor Schmerz zusammen. Zu dem Brennen gesellte sich ein stetiges Pochen hinzu, das ihr wieder einmal ihre Menschlichkeit höhnisch vor Augen führte.

Killians entsetzter Gesichtsausdruck wandelte sich in hasserfüllte Wut um, als er aufsprang und neben ihr Bett eilte. 
"Sag mir jetzt verdammt noch mal, wer das gewesen ist!" Sein Gesicht war dem ihren ganz nah, seine Hände verkrampften sich zu Fäusten und sein Gesichtsausdruck war wutverzerrt.
Seine heftige Reaktion machte Ivory sogar ein bisschen Angst und wäre sein Vater nicht gewesen, hätte sie sich schutzlos gefühlt.

Beruhigend legte Savio seine Hände auf Killians Schultern, doch dieser schüttelte sie sofort ab, als würde ihn die bloße Berührung seines Vaters verbrennen.
"Es nützt nichts, so aus der Haut zu fahren, Killian. Gib ihr Zeit, sich zu erholen."
Doch Killians Ausdruck wurde nur noch ernster, sein Blick wanderte über ihre Verletzungen. Auf einmal erkannte Ivory, dass er sich hilflos fühlte. Er konnte nichts tun, um ihr den Schmerz zu nehmen, daher schlug sein Mitgefühl in blanke Wut um.

Noch immer stand er leicht nach vorne gebeugt über dem Bett und starrte mit seinen teuflischen Augen bedrohlich auf Ivory hinab. 
Savio beobachtete die Szene besorgt, verließ jedoch unaufgefordert den Raum, als Ivory ihm einen bittenden Blick zuwarf. 
Schwach hob sie ihre schmalen Hände und berührte Killians Gesicht, so wie er es noch vor wenigen Stunden bei ihr getan hatte. 

Sofort entspannten sich seine Gesichtsmuskeln, das Grün seiner Augen wurde wieder warm und weich, nicht kalt und boshaft wie zuvor.
Vielleicht war es ein Streich der Natur, dass zwei so emotionale Menschen sich nur mithilfe des anderen wieder besinnen konnten. 
"Ich kann dir nicht sagen, wer es war, verstehst du?" Mit einem weichen Blick und großen Augen versuchte sie, ihn zu becircen. Um ihn vollständig auf den Boden zurück zu bringen, leckte sie sich leicht über die Lippen und lenkte seinen Blick auf ihren Mund, rief die Erinnerung an den zarten Kuss wieder hervor.

Leider nur war Killian nicht so einfach gestrickt wie die meisten Männer und reagierte anders als erhofft. Abrupt riss er sich aus ihrem Griff los, zischte wütend und lächelte sie schließlich boshaft an.
"Es war dein Bruder", stieß er zornig hervor, das Grinsen wich nicht aus seinem Gesicht. Angestrengt fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht, während Ivorys Herz einen kurzen Schlag aussetzte.
"Nein, er...", stotterte sie unbeholfen. Ausgerechnet jetzt blieben ihr die Worte im Hals stecken, was sie schwach und kindlich wirken ließ.

"Verdammte scheiße, lüg mich nicht an, Ivy! Ich habe genug Heuchler in meinem Leben und dachte, du wärst ehrlich zu mir. Aber scheinbar bist du naiv und dumm. Er hätte dich fast getötet! Und trotzdem nimmst du dieses Arschloch in Schutz?"
Der Zorn und die Kälte in seiner Stimme erinnerten Ivory wieder daran, was er eigentlich war. Ein Killer ohne Emotionen. 
Ihre Gefühle interessierten ihn nicht. Er wollte nur Rache, wollte nur Töten. 

Ihr war unbegreiflich, wie jemand so viel Hass in sich tragen konnte und dabei keinerlei Verständnis für die Bedürfnisse und Gefühle anderer hatte.
"Er ist mein Bruder", setzte sie traurig an, wurde jedoch von seiner erhobenen Hand unterbrochen.

"Weißt du, ich scheiß auf deine dramatischen Familienverhältnisse. Dir das Leben zu retten war reine Zeitverschwendung, wenn du dich ohnehin wieder in seine Nähe begeben willst. Aber okay, liefere dich selbst ans Messer. Nächstes Mal bin sicher nicht ich derjenige, der dir wieder den Arsch rettet!"

Seine Worte trafen sie wie ein Faustschlag ins Gesicht. Statt Wut fühlte sie Enttäuschung in sich aufkommen. Wie konnte sich jemand innerhalb kürzester Zeit so ändern? Oder hatte sie ihn die ganze Zeit über falsch eingeschätzt? 
"Sei kein Idiot! Dir geht es immer nur um deinen eigenen, verkorksten Sinn für Gerechtigkeit. Aber wenn du Elian auch nur ein Haar krümmst, dann mache ich dich fertig Killian!" Für die Unsicherheit in ihrer Stimme könnte sie sich verfluchen, dennoch erzielten ihre Wort die gewollte Wirkung. 

Sein ganzer Körper spannte sich an, seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verzogen. Ivory wusste, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte. Killian war wie ein schlafender Vulkan, den man besser nicht weckte. 
"Deine Worte beweisen nur, dass du eine Scheißangst davor hast, allein zu sein. Das ist doch der Kern dieses ganzen Durcheinanders. Es geht dir gar nicht darum, deinen Bruder zu heilen - du willst dich einfach nur selbst retten. Du setzt all deine Emotionen auf die vage Chance, deinen Bruder zurück zu bekommen und mit ihm das Leben zu führen, das du dir immer gewünscht hast. Und genau diese Denkweise macht dich so naiv und angreifbar."

Darauf fiel Ivory partout keine Antwort ein. Seine Worte waren verletzend und schmerzten noch mehr als die unzähligen Bisse auf ihrer blassen Haut. Blinzelnd versuchte sie, ihre Tränen zu unterdrücken, um dem Gesagten nicht noch mehr Nachdruck zu verleihen. Nie hätte sie gedacht, dass er sie so tief berühren und ihr Herz mit solcher Leichtigkeit zerquetschen könnte.

Auch der ekelhafte Gedanke, er könnte mit seiner Vermutung recht haben, bohrte sich in ihr Gehirn und machte sie noch trauriger.

"Und, ganz ehrlich, ich habe echt keine Lust, deinetwegen meine Berufung zu verleugnen und sittsam zu werden. Dein Bruder ist ein Mörder, genau wie alle anderen und deshalb verdient er den Tod."
"Es reicht", flüsterte sie mit erstickter Stimme. Doch Killian wandte sich bereits ab, um zu gehen. Um seine Aufgabe zu erfüllen und ihr das Einzige im Leben zu nehmen, das ihr noch einen Grund gab zu Sein.

"Du bist ein genauso herzloser Killer!", rief sie ihm mit belegter Stimme hinterher. Die beißenden Worte verließen ihren Mund, ehe sie es unterdrücken konnte. Selbst Ivory war entsetzt von dem Gesagten und machte sich auf eine unschöne Reaktion von Killian gefasst. Doch statt wütenden Widerworten verließ er einfach den Raum und ließ Ivory schluchzend in dem kalten Zimmer zurück.

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Huhuuu ihr eifrigen Leserinnen und Leser, 

die Dramatik der Geschichte steigert sich so langsam, im folgenden Kapitel geht es rasant weiter!! (Und die Nummerierungen meiner Kapitel werden immer länger haha)

Könnt ihr die Reaktionen der beiden nachvollziehen? Beim Schreiben ergeben ihre Handlungen Sinn; beim Lesen auch...?

LG und einen schönen Start in die Woche!

Eure 

LiviaDV



Jägerin Band 1 - Zwilling *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt