XVI - Elian

43 8 14
                                    

Noch Tage später spukte das Gespräch mit Alva in Ivorys Kopf herum und ließ ihr keine Ruhe. Die Nächte wurden von Albträumen begleitet, die Tage von darauffolgender Müdigkeit.
Ihre innere Stimme forderte sie auf, endlich wieder ihre Wohnung zu verlassen und ihrer eigentlichen Tätigkeit, nämlich dem Jagen, nachzugehen.
Jedoch befand ein kleiner Teil ihrer Seele ihre selbst auserkorene Berufung mittlerweile als falsch. Deshalb kam es ihr vor, als hätte sie den Sinn ihres Seins verloren und noch nicht wieder gefunden.
Außerdem fühlte sie sich schwach, geistig wie körperlich. So tatenlos wie in den letzten Wochen, war sie schon lange nicht mehr gewesen.

Als sie noch jünger war, hatte sie den inneren Drang gehabt, jede einzelne Sekunde ihres Lebens voll auszuschöpfen. Schlaf erschien ihr als Zeitverschwendung, genau wie das Nichtstun. 
Doch irgendwann hatte sie festgestellt, dass es keinen Sinn machte, jede Sekunde zu "nutzen", wenn es nicht einmal einen Sinn gab, zu leben.
Und diesen Lebenssinn suchte sie verzweifelt. Wenn sie nicht mehr auf die Jagd gehen und die Welt ein Stück besser machen würde, wenn ihr Bruder endgültig verloren war - was blieb ihr dann?

Träge nippte Ivory an ihrem schwarzen Kaffee und genoss die wohltuende Wirkung des heißen Gebräus in ihrem Körper.
Killian hatte sich wieder einmal seit Tagen nicht gemeldet und seine Nummer konnte sie nicht anwählen, da sie unterdrückt war. Was sie ziemlich abhängig von ihm machte und ihr so gar nicht in den Kram passen wollte.
Noch dazu musste sie sich eingestehen, dass sie ihn auf eine paradoxe Art und Weise vermisste. Ihr Verhältnis zu ihm war anders, als zu jedem anderen Menschen, dem sie je begegnet war. Vielleicht weil er sie verstand. Weil er möglicherweise genau so viel Leid ertragen hatte, wie sie. Wenn das denn überhaupt möglich war.

Abwesend tippte sie eine kurze SMS an Damien, der seine Nächte mittlerweile lieber bei Crystal verbrachte, anstatt bei ihr. Was nicht weiter verwunderlich war, von ihr bekam er alles, was er sich wünschte.
Komischerweise störte sie das überhaupt nicht, weil sie genau wusste, dass er auf Abruf dennoch für sie da wäre. Und das war alles, was für Ivory zählte: Loyalität.
Gerade als sie auf "Senden" drückte, riss sie ein lautes Klopfen aus ihrer geistigen Abwesenheit. Erschrocken zuckte sie zusammen und verschüttete heißen Kaffee über ihre Finger, auf denen sich sofort rote Flecken bildeten.

"Verdammter Mist!", entfuhr es ihr, als sie zur Haustür eilte. Hilflos wedelte sie mit der Hand in der Luft, in der Hoffnung, das Brennen vertreiben zu können. Was natürlich gar nichts nützte. Deshalb sah sie auch nicht durch den Türspion, wie sie es sonst tat.
In der Annahme, es könnten sowieso nur Killian oder Damien sein, öffnete sie ohne zu Überlegen die Eingangstür.
Spätestens als sie in das Gesicht ihres Bruders sah, bereute sie ihre Leichtsinnigkeit sofort.

Hektisch versuchte sie, ihm die Tür vor der Nase zuzuknallen, doch er hatte bereits seinen Fuß im Rahmen und drückte mit immenser Kraft gegen das Holz.
Ivory hatte nicht die geringste Chance gegen ihn und stolperte unbeholfen zurück in den Flur, als Elian bedrohlich ihre Wohnung betrat. Auf seinem schwarzen Mantel glänzten flüssig werdende Schneeflocken, seine dunklen Haare hingen strähnig von seinem Kopf.
Entsetzt starrte sie ihrem Bruder entgegen, mit dessen Erscheinung sie jetzt am allerwenigsten gerechnet hätte.

Langsam verschwand der Nebel aus ihrem Gehirn und belebte gerade noch rechtzeitig ihren Selbsterhaltungstrieb. Adrenalin pulsierte durch ihre Adern, als sie in Windeseile in die Richtung ihres Schlafzimmer lief, um sich ihre Beretta zu greifen, die wie immer auf ihrem Nachtkästchen lag. Doch Elian war schneller als sie, packte sie grob am Arm und schleuderte sie herum, als sie gerade erst zwei Schritte getan hatte.
Ihr Blick traf seine roten, zu Schlitzen verzogenen Augen und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Elian grinste sie makaber an, spitze Zähne blitzten zwischen seinen Lippen hervor.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihm das letzte Mal so nah gewesen war, wie in diesem Moment. Aber statt Freude machte sich eine furchtbare Angst in ihr breit. Warum war er hier?

Die Erinnerung an den Biss vor einigen Wochen platzierte jeden erfreulichen Gedanken.
Seine Ausstrahlung und sein eiskalter Blick bewirkten ein Gefühl in ihr, das sie lange nicht mehr gespürt hatte. Todesangst.
Und gleichzeitig raste Adrenalin durch ihren Körper, als hätte sie zehn Tassen Kaffee intus.
"Schwester", zischte er boshaft. Sein Gesicht war dem ihren so nahe, dass sie den metallischen Gestank von Blut in seinem Atem riechen konnte und sie beinahe würgen ließ.
Währenddessen spukten Killians Worte durch ihren Kopf, dass Seminex alle menschlichen Züge ablegten und zu erbarmungslosen Raubtieren wurden.
Und sie war das Opfer.

Er drehte ihren Arm schmerzhaft auf den Rücken und griff mit seiner freien Hand grob in ihre Haare, um ihren Hals frei zu legen. Unweigerlich entwich ihr ein schmerzhafter Aufschrei.
Obwohl sie sonst taff war, nagte diese Situation gerade deshalb an ihrer inneren Stärke, weil ihre Menschlichkeit die Überhand gewann. Ihr Kampfgeist schien sich in den Hintergrund zu schieben, als bloße Panik ihre Gedanken überflutete.

Sie spürte, wie sein Atem stockte, als er die verheilte Wunde an ihrer Kehle sah. Scheinbar schien ihn der Umstand, dass sie noch ein ganz normaler Mensch war genau so zu schockieren, wie Killian vor einigen Tagen.
"Das ist doch nicht möglich!", fauchte er frustriert. Sein Griff verstärkte sich und ließ Ivory leise aufkeuchen. Ihre Kopfhaut fühlte sich an, als würde sie sich von ihrem Schädel lösen.

Sein sich lockernder Griff weckte einen Anflug von Optimismus in ihr. Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an den Gedanken, dass er von ihr ablassen und sie in Ruhe lassen würde.
Die aufkeimende Hoffnung wurde allerdings zunichte gemacht, als er sie so heftig von sich stieß, dass sie einige Meter entfernt brutal gegen die Wand prallte und schließlich zu Boden fiel. Dabei raubte ihr der heftige Aufprall auf dem harten Boden kurzzeitig die Sicht.
Reflexartig prüfte sie ihren Kopf auf äußere Verletzungen und versuchte sich mit aller Kraft hochzustemmen, doch ihr benebelter Blick hinderte sie daran.

Angstschweiß drang aus ihren Poren, als ihr Bruder plötzlich neben ihr stand und sich wie ein dunkler Schatten über sie beugte.
Als er seine Hände fest um ihren Hals schloss und ihr die Luft nahm, wurde ihr Körper von einem  unkontrollierten Zittern erfasst. Sie wusste, es hätte keinen Zweck, sich gegen seine unermessliche Stärke zu wehren, doch ihr Instinkt reagierte ohne ihr bewusstes Zutun.
Wie eine Irre versuchte sie, Elians Hände zu lösen und sich aus seinem festen Griff zu befreien, doch sie war machtlos gegen ihn.

Seine ekelerregenden Augen bohrten sich in die ihren, als seine Finger den Druck um ihr Genick verstärkten. Ein hilflosen Röcheln drang aus Ivorys Kehle.
Auf Grund der fehlenden Luftzufuhr fühlte sich ihr Kopf an, als würde er jeden Moment explodieren. Verzweiflung kroch ihre Glieder hoch und ihr Unterbewusstsein verstärkte ihren Überlebenswillen. Mit letzter Kraft schlug sie ihm ins Gesicht, zerkratzte seine Hände und strampelte wild mit den Beinen. Niemals hätte sie gedacht, dass sie über so banale, menschliche Reaktionen verfügte.

Ernüchternd stellte sie fest, dass ihre Regungen nur ein Lächeln auf Elians Gesicht hervorbrachten. Durch seinen eisernen Griff konnte sie seinem blutroten Blick nicht ausweichen. Zuletzt trieb ihr sein kranker Gesichtsausdruck doch noch Tränen in die Augen, obwohl sie dagegen angekämpft hatte. Doch was sie in seinem Blick sah, ging ihr durch Mark und Bein. Er erfreute sich an ihrem Leid.

Ihre Mutlosigkeit wurde von einer brutalen Endgültigkeit begleitet, sodass sie aufhörte, sich gegen Elians Griff zu wehren. Stattdessen akzeptierte sie die Dunkelheit, die sich vor ihren Augen auftat und gab sich ihr hin.


_______


Liebe Leserinnen und Leser,

ich wünsche euch ein wunderbares, neues Jahr!!  
(Ich hoffe eures hat besser angefangen als meins. Mir ist nämlich gestern einer volle Kanne in mein Auto rein gefahren - Totalschaden... 
Ach, was gibt es schöneres, als zu Beginn eines neuen Jahres erst mal den Versicherungen auf die Nerven zu gehen xD)

Nun zum heutigen Kapitel: was ist eure Meinung?? Wie glaubt ihr, geht es weiter? :)

Weiterhin eine schöne Zeit,

Eure

Livia


Jägerin Band 1 - Zwilling *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt