4. Kapitel- Die Wege des Waldes

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Die Sonnenstrahlen tanzten auf meinem Gesicht und durchbrachen die Dunkelheit, in die ich bis vor einem Augenblick noch gehüllt war.
Das Zelt, in dem ich lag, war viel größer, als Leylas. Die Zeltwände bestanden aus purpurnem Stoff, der mit goldenen Bändern zusammengehalten wurde.
Das Bett war größer, weicher und roch nach einer Mischung aus Harz und nassem Moos.
Ich trug ein neues Nachthemd aus weißem Leinen.
Vorsichtig hob ich die, mit Fell gefütterte, Decke hoch und begutachtete meine Wunden. Verblüfft fuhr ich mit den Fingern über die Ränder der verheilenden Wunde an meiner Taille. Es tat kaum mehr weh, es war nur ein leichtes Ziehen, eine schwache Erinnerung an die Wunde, die sie vorher war.
Ich stützte mich auf meine Unterarme und setzte mich auf. In diesem Moment wurde der purpurne Stoff der Zeltöffnung zur Seite geschoben.
Leyla trat ein. Sie musterte mich mit unverholener Neugier und einem Hauch von Angst.
"Kaylen?", fragte sie zögerlich. Ich nickte. Sie wirkte erleichtert, als würde eine große Last von ihr abfallen.
"Ich dachte, ich kenne noch nicht einmal deinen richtigen Namen.", murmelte sie und starrte betreten auf ihre Füße.
"Ich bin Kaylen Bellaqua, Prinzessin der SeaLands, aber ich glaube, das wusstest du bereits.", erwiderte ich. Leyla fuhr sich unsicher durch die dunklen Haare.
"Es tut mir leid!", fügte ich hinzu, als sie nicht amtwortete.
"Sag das nicht!", winkte sie ab, "Im ersten Moment war ich verletzt, weil du mir nicht die Wahrheit gesagt hast, aber ich verstehe jetzt, warum du es nicht konntest!" Sie lächelte mir zu.
"Hast du Durst?" Ich nickte und nahm das Wasserglas, das sie in der Hand hielt dankbar entgegen.
Leyla brachte mir neue Kleider und eine Schüssel mit Wasser, damit ich mich waschen konnte. Sie verließ das Zelt, um mir genügend Privatsphäre zu geben und ich ließ mir Zeit beim Waschen.
Schließlich setzte ich mich wieder auf das Bett. Auch wenn ich schon darin geschlafen hatte, fühlte ich mich unwohler, je mehr ich darüber nachdachte. Das Zelt war wunderschön, mit weißen Steinen, die auf der grünen Wiese lagen, wie ein Parkettweg.
Leyla brauchte lange, bis sie wieder ins Zelt trottete. In ihren Händen trug sie ein Tablett.
"Ich habe dir was zu Essen mitgebracht!", sagte sie. Leyla stellte das Tablett auf einem Tisch ab und trottete wieder in Richtung Tür.
"Wie lange wirst du diesmal weg sein?", rief ich ihr hinterher. Sie drehte sich nicht um.
"Kaylen, es tut mir leid!", sagte sie und ihre Stimme zitterte.
Meine Miene verhärtete sich, wie ein See, der im Winter zufriert.
"Es muss dir nicht leid tun!", sagte ich trocken, "Du hast mich gerettet, mich gesund gemacht, und ich habe mich letzten Endes als Erzfeindin deines Landes entpuppt. Jetzt wirst du für deine selbstlose Tat bestraft und musst meine Kerkermeisterin sein!"
Ohne auf meine Antwort zu reagieren, ging Leyla aus dem Zelt und zog den Stoff hinter sich zu. Ich hörte, wie sie mit jemandem sprach, allerdings zu leise um die Worte zu verstehen. Ich trat an die Zeltwand, legte meine Hände vorsichtig auf die weichen Zeltwände und lauschte.
Es wurde Abend, ehe ich das Klopfen von Leylas Hufen auf dem Rasen vernahm. So leise es ging, warf ich mir den braunen Umhang, den ich neben dem Bett gefunden hatte, über die Schultern und schlüpfte aus dem Zelt.
Ich zog die Kaputze tief in mein Gesicht, lief um das nächste Zelt, und knallte gegen ein groß gewachsenes Mädchen.
Sie hatte blasse Haut, große violette Augen und eichenfarbenes, bis auf die Schultern fallendes Haar. Die schwarze Seide ihres Kleides schwebte um ihre nackten Fußknöchel. Ich stolperte zurück und riss die Augen auf. Aus ihren bleichen Unterarmen wuchsen dunkle dornenbehaftete Äste und sie trug eine Krone, aus ebendiesen Dornen.
"Es...es tut mir leid!", stotterte ich. Sie fixierte mich mit ihren violetten Augen. Ihr Blick triefte von einer Weisheit, die weder zu ihrem Alter, noch zu etwas menschlichem passte und gleichzeitig so ungebändigt und wild war, wie der Wind oder das Wachsen der Bäume.
Sie hob den Arm und deutete auf eine Lücke zwischen den Zelten.
"Du solltest da lang gehen!", erwiderte sie. Ich blinzelte sie verwirrt an.
"Jetzt geh schon, Leyla wird bald zurück sein!", sagte sie und ihre Stimme klang beinahe genervt. Misstrauisch blickte ich in die Richtung, die sie mir gewiesen hatte.
"Was liegt in dieser Richtung?", fragte ich. Das Mädchen verdrehte ihre Augen.
"Lauf einfach und du wirst es sehen!", wiederholte sie. Langsam lief ich in die Richtung, die sie mir gewiesen hatte.
"Wenn du nicht schneller läufst, werden sie dich schnappen, ehe du den Wald erreichst!", rief sie mir harsch hinterher.
Ich warf einen Blick über meine Schulter und beschleunigte meine Schritte. Mit klopfendem Herzen zog ich mir die Kaputze tiefer ins Gesicht, als ich den Waldrand erreichte.
Unbemerkt tauchte ich in das lebhafte Grün des Waldes ein. Ich rannte, sobald ich außer Sichtweite war. Meine Füße flogen über knorrige, moosbewachsene Wurzeln und Farn, dessen Blätter mich an der Hüfte streiften.
In der Ferne hörte ich das Rauschen eines Flusses oder eines Sees. Mein Herz schlug schneller. In meiner Seele verspürte ich diese tiefe Sehnsucht: wie die Wellen, die an den Strand spülten, jedoch immerwieder zurück ins Meer flossen.
Ich rannte auf eine Baumgruppe aus Weiden zu, deren lange blassgrüne Äste wie Haare ins Wasser hingen. Ich stoppte so abrupt, dass ich beinahe über eine Wurzel gestolpert wäre.
Vor mir erstreckte sich ein kleiner See, dessen leises Plätschern wie eine Melodie in meinen Ohren erklang. Das Ufer des Sees war von Bäumen flankiert und dunkle Steine ragten aus dem Wasser hervor.
Ich stützte mich an einem Weidenstamm ab. Ich war nicht alleine. Auf der anderen Seite des Sees, auf einem grauen Stein, saß bereits jemand.
Er hatte glattes Haar, so hell, wie die Sonnenstrahlen im Frühling. Seine Augen waren grün, so wie die Knospen der Blüten. Sein helles Hemd hob sich deutlich von dem dunklen Stein ab, auf dem er saß. Er war höchstens zwei Jahre älter als ich. Sein Kopf drehte sich in meine Richtung und er starrte mich überrascht an.
"Wer bist du?", fragte er und stand langsam von seinem Felsen auf. Ich schob die Äste der Weide zurück. Die Kaputze war mir beim Rennen über den Kopf gerutscht.
"Ich bin Kaylen!", sagte ich außer Atem. Er runzelte die Stirn.
"Ich hab dich hier noch nie gesehen!", sagte er und trat bis an den Rand seines Felsens, um mich zu mustern. Ich zuckte nur die Achseln.
"Und wer bist Du?", fragte ich, um das Thema zu wechseln. Er legte den Kopf schief und grinste. Ich reagierte nicht darauf.
"Peter!", sagte er und verzog die Augenbrauen, "Ich heiße Peter! Was machst du alleine im Wald?"
Ich zuckte wieder die Achseln. "Das selbe könnte ich dich fragen!" Er verzog den Mund zu einem Grinsen.
"Hast du dich verlaufen? Soll ich dich nachhause bringen?", bot er an. Ich verdrehte nur die Augen.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass du mich nicht nach Hause bringen kannst!", erwiderte ich.
"Ich kenne mich hier in Eralor ziemlich gut aus, bist du sicher, dass du meine Hilfe nicht brauchst?", harkte er nach.
"Ich schaffe das schon alleine!", sagte ich. Er öffnete den Mund, als plötzlich Rufe hinter uns ertönten. Das rhythmische Traben der Pferdehufe donnerte über den Waldboden, sodass sich die Wasseroberfläche des Sees kräuselte.
Peters Blick glitt hinter mich, ehe er mich wieder ansah. Ich verlor keine Zeit.
Ich rannte los, raffte meinen Rock und rannte über die Wasseroberfläche. Bei jedem Schritt, den ich lief, breitete sich Eis aus, wie eine riesige Schneeflocke. Ich rannte an Peter vorbei ans Ufer, über die Farnpflanzen.
Ich hörte wie die Stimmen immer näher, die Hufschritte immer lauter, wie Donner über den Boden hallten.
Panisch suchte ich nach der nächsten Wasserquelle, mit dem Ergebniss, dass ich mich gerade von der einzigen Wasserquelle wegbewegte.
Ich schrie auf, als sich plötzlich Arme um mich schlungen, meine Arme an meinen Körper drückten und ich mich nicht mehr bewegen konnte. Ich hörte ein Zischen, direkt neben meinem Gesicht und gleich darauf einen Schrei an meinem Ohr.
Peter taumelte rückwärts und zog mich mit sich. Aus den Augenwinkeln sah ich etwas Rotes aufblitzen und bemerkte den blutigen Pfeil, der gleich hinter mir aus dem Baum aufragte.
"Lass mich los!", schrie ich und versuchte mich aus seinem Griff zu winden.
"Nicht schießen!", brüllte er, "Ich hab sie!"
Mehrere Zentauren galoppierten auf uns zu, den Pfeil an der Sehne. Schlagartig stoppten sie, als sie ihn erblickten.
"Lass mich los! Bitte!", rief ich noch einmal.
"Tut mir leid!", flüsterte er neben meinem Ohr.
Die Zentauren verneigten sich tief und in diesem Augenblick verstand ich zwei Dinge; erstens, mein Fluchtversuch war gescheitert und zweitens, hatte Peter, der König von Eralor mich wieder eingefangen.

Die Chroniken von Eralor- Kaylens Lied   Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt