10. Kapitel - Scharlachrote Sonne

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Meine Füße trugen mich über die Grenze zwischen Eralor und den SeaLands, immer weiter, bis ich schließlich die Lichter einer Stadt vor meinen Augen sah: Ascendant.
Vor Erschöpfung sank ich in das feuchte Graß. Schwer atmend blieb ich liegen. Ich war zwei Tage und drei Nächte unterwegs gewesen, war die Nacht über gerannt, bis meine Muskeln vor Erschöpfung protestierten, und hatte die Tage geschlafen.
Mein rosafarbenes Kleid war mit Schlamm bespritzt und der Saum war zerrissen und von Schlamm getränkt.
Ich stützte mich auf meine zitternden Arme, wollte aufstehen, wollte weiterlaufen, doch meine Arme gaben nach und ich fiel wieder ins Gras zurück. Und ohne, dass ich es merkte schlief ich ein.

Ich erwachte von lautem Hufgetrappel, das wie entfernter Donner über die Wiese hallte. Erschrocken richtete ich mich auf. Vor meinem Inneren Auge sah ich die Zentauren von Eralor auf mich zu galoppieren, doch in Wirklichkeit waren es nur gewöhnliche Reiter. Weiße Pferdehufe blieben vor mir stehen. Ich erschrak und musste den Kopf in den Nacken legen, um des Reiter erkennen zu können.
Eine blonde junge Frau stieg von ihrem weißen Pferd ab. Eine Erinnerung blitzte auf.
Vor dem Tod meiner Mutter hatte uns meine Tante regelmäßig besucht. Meine Tante, Freya Venatrix, Fürstin des EastSea, besaß keine Kräfte, so wie Oktavius und ich. Ich erinnere mich noch deutlich an das jüngere Gesicht meiner Cousine Scarlet, die uns früher so oft besucht hat, das sie fast schon meine Schwester war.
Scarlet hatte bis über die Schulter reichende Locken, von der Farbe von Sonnenstrahlen, die durch die Eisblumen am Fenster strahlten. Ihre Augen waren so blau, wie die Eiszapfen an den Mauern von Dilacerant. In meiner Erinnerung war ihr Gesicht rundlicher, mit heller Haut und zierlicher Nase.
Heute blickte sie mich mit den selben Eisblauen Augen an, in ihrem Gesicht spiegelte sich Bestürzung, sowie Mitleid. Ihr Gesicht war schmaler Geworden, mit mehr Konturen, hohen Wangenknochen, vollen Lippen und hoher Stirn. Ihr platinblondes Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter reichte und sie trug ein weinrotes Kleid, welches ihre blauen Augen nur betonte.
"Kaylen?!", fragte sie ungläubig. Ich konnte mein Gesicht nicht von ihr abwenden.
"Scarlet?!", fragte ich, als sie von ihrem Pferd stieg, meine Arme umfasste und mich auf ihr Pferd zog.
"Ich...", begann ich, doch meine Stimme brach ab. Scarlet legte mir eine Hand auf den Arm, als Zeichen, das ich mich beruhigen sollte.
"Später!", erwiderte sie, "Jetzt bringen wir dich erst mal in die Stadt und dann erzählst du uns deine Geschichte! Gott, Kaylen, wir dachten alle du bist tot und hast deinen Vater ermordet!"
Ich wollte den Mund öffnen, um dagegen zu protestieren, aber Scarlet strich sanft über meinen Rücken, als  Zeichen, dass ich mich ausruhen sollte. Ich legte meine Wange an den Pferdehals und schloss die Augen.

Als ich wieder erwachte, war der nächste Morgen angebrochen und das Licht der Sonne schien durch die Fenster. Ich lag in einem Zimmer mit blauen Wänden und goldenen Mustern, die als Verziehrungen dienten. Scarlet schlief auf einem Stuhl neben meinem Bett, doch als ich mich aufsetzte, schlug sie die Augen auf.
"Wie fühlst du dich?", fragte sie. Ich grinste schwach.
"Wie das grüne Zeug im Magen einer Kuh. Scarlet erwiderte mein Lächeln. Eine Weile lang betrachteten wir uns nachdenklich. Wir waren beide älter geworden, ohne dass wir einander gesehen hatte. Und trotzdem war ihr Anblick etwas so vertrautes, dass ich mir wünschte, ich würde das zögerliche Klopfen meines Bruders an der Tür hören.
"Erzähl es mir!", sagte sie und neigte den Kopf zur Seite.
Und ich erzählte ihr alles, angefangen beim Tod meines Vaters, bis zu dem Gespräch, dass ich in Meridiem Cieri mitangehört hatte.
Nur von Peter erzählte ich nichts. Ich wusste ehrlich nicht, was ich sagen sollte.
Und ich wusste, wenn ich einmal davon erzählen würde, wenn ich der Sache einen Namen geben würde, dann könnte ich es nicht mehr rückgängig machen.
Als ich geendet hatte schwieg sie eine Weile lang.
Unruhig trommelte ich mit meinen Fingern auf die Matratze, bis sie mich schließlich wieder ansah.
"Wir müssen Vorkehrungen treffen!", sagte sie.
"Wenn uns König Peter angreift, dürfen wir nicht schutzlos sein. Und wenn Oktavius erfährt, dass du hier bist...", sie musste nicht weiter sprechen, ich wusste, was sie meinte.
"Scarlet, ich weiß, ich bin eine Gefahr führ euch!", sagte ich, "Wenn du es also willst, dann werde ich Ascendant verlassen, damit es keine Zielscheibe für meinen Bruder wird!"
Scarlet schüttelte den Kopf. Von ihrem sorgsamen Knoten hatten sich einige Strähnen gelöst und flogen lose um ihr Gesicht.
"Soll das ein Scherz sein?!", fragte sie. Ich zuckte mit den Schultern und wartete ihre Reaktion ab.
"Kaylen, du bist unsere stärkste Waffe!", rief sie, "Ohne deine Kräfte ist der EastSea verloren! Abgesehen davon kann ich meine Cousine doch nicht den Wölfen zum Graß vorsetzen!"
Ich schüttelte den Kopf und sah auf die schmutzigen verschwitzten Reste meines Kleides herab.
"Ich glaube, du willst nur die Wölfe vor mir schützen!", sagte ich und sie lachte, bevor sie mich in eine Umarmung zog.
"Es ist mein Ernst, Kaylen! Ich habe nie geglaubt, dass du deinen Vater ermordet hast!", sagte sie, bevor sie sich von mir löste.
"Und jetzt sorge dafür, dass die Wölfe nicht mehr vor dir wegrennen!", sagte sie und lächelte mir verschmitzt zu, bevor sie den Raum verließ.
Ich schlug die Decke zurück, schälte mich aus den Fetzen meines einst wunderschönen Kleides und lief zum Bad um mich zu waschen.
Alles hier kam mir so vertraut vor, von den blauen Wänden, zu dem Mamorparkett, bis hin zu den blauen Brokatvorhängen vor den hohen Fenstern. Ich wusch mich, kämmte mein Haar und schlüpfte in das himmelblaue Kleid, dass Scarlet an die Tür zu meinem Kleiderschrank gehängt hatte. Meine Finger fuhren über die Nähte am Saum meiner Ärmel.
Ich hatte mir in den vorherigen Tagen und Nächten verboten, an ihn zu denken, darüber nachzudenken, was er gesagt hatte, wie er es gesagt hatte. Meine Lippen prickelten bei der Erinnerung, doch ich schob sie beiseite und trat aus der Tür hinaus. Ein blau gekleideter Diener stand davor.
"Lady Bellaqua, ich soll euch zu Lady Venatrix in den Speisesaal führen!", sagte er und verbeugte sich tief.
"Nicht nötig!", winkte ich ab, "Ich kenne den Weg!" Und noch bevor er protestieren konnte lief ich den schmalen Gang entlang auf eine silberne Tür zu, die mich zum Spiesesaal führte.
Ich öffnete die Tür und zwei Köpfe drehten sich in meine Richtung.
Scarlet stand von dem gläsernen Tisch auf, an dem sie gesessen hatte. Sie trug ihr Haar offen und dazu ein neues scharlachrotes Kleid mit goldenem Gürtel. Neben ihr saß ein Mann mit einem einfachen weißen Hemd und hohen Stiefeln, in die er seine schwarze Hose gesteckt hatte. Er hatte dunkelbraunes Haar, das ihm in Locken über die gebräunte Stirn fiel. Seine Augen waren so grau wie das Silber der Tür und sein Gesicht war sehr markant geschnitten. Sein Gesicht war sehr einprägsam und auf eine Weise attraktiv, die man erst bei genauerem Hinsehen verstand. Er erhob sich ebenfalls.
"Kaylen!", rief Scarlet und lächelte dem Mann zu, "Darf ich dir meinen Verlobten vorstellen? Das ist Helios LaCus, Hauptmann der Garde!" Ich schluckte und erst in diesem Moment fiel mir der glitzernde Edelstein an ihrer Hand auf. Langsam schob sich ein Lächeln auf mein Gesicht.
"Du bist verlobt?!", fragte ich und lief auf Beide zu. Helios lächelte Scarlet in einer Weise an, die das Eis zum Schmelzen brachte. Scarlet strahlte, als ich vor beiden zum stehen kam. Helios war größer als Scarlet. Ich umarmte Scarlet.
"Herzlichen Glückwunsch!", rief ich, "Ich freu mich für euch beide." Ich spürte, wie Scarlet das Gesicht zu einem Lächeln verzog Und wandte mich an Helios. Ich reichte ihm die Hand.
"Es ist mir eine Ehre, Prinzessin!", sagte er. Ich winkte ab.
"Bitte, nennt mich Kaylen!"
Scarlet grinste und er umfasste ihre Taille, als plötzlich ein Diener die Türen öffnete.
"Lady Venatrix, wie werden angegriffen!", rief er atemlos, der Schock war ihm ins Gesicht geschrieben. Ich wechselte einen Blick mit Scarlet.
"Sind es die Armeen von Eralor?!", fragte ich. Der Diener drehte sich mit geschützten Lippen um.
"Nein!", sagte er atemlos, "Es ist unser verehrter König, Oktavius mit seiner Armee!"

Die Chroniken von Eralor- Kaylens Lied   Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt