Kapitel 4

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"Du hast exakt 60 Minuten", reißt er mich aus meiner Schockstarre, in die ich in letzter Zeit wegen ihm wohl viel zu oft falle.

"60 Minuten wofür?", frage ich überflüssigerweise, denn eigentlich liegt es doch auf der Hand: für die Flucht. Er gibt mir den Schlüssel zu einer Tür, die offensichtlich der einzige Weg in dieses Zimmer ist, es gibt keine Fenster und eine Tür befindet sich hier ja auch nicht. Generell wirkt dieses Zimmer einfach nur leer, kein einziger Stuhl steht hier und selbst die Liege, auf der ich mich befinde, scheint mit dem Boden und der Wand verschraubt zu sein. Das einzige, das noch ins Auge fällt ist eine Art Küchentresen oder -ablage am anderen Ende des Raumes. Was wird darin aufbewahrt? Könnte es wichtig sein? Sollte ich eventuell nachsehen? Aber das würde nur meine Fluchtzeit verkürzen.

Mit den Gedanken wächst meine Neugier und mein Blick klebt förmlich an dem dunklen Steintresen. Nur mit Mühe kann ich meinen Blick zu Marc umschweifen und meine Gedanken vorerst soweit zu unterdrücken, dass in meinem Kopf noch wenigstens genug Platz für seine Erklärung ist.

"Für deinen Weg durch die Tür. Ich werde dich für 1 Stunde allein lassen und dann wiederkommen. Zur Sicherheit werde ich dann ebenfalls durch die Tür gehen und dich suchen; wir wollen doch nicht, dass du dich verirrst und schließlich verhungerst, nicht wahr?", säuselt er und steckt die Hände in die Taschen seiner dunkelgrauen Anzugshose. 

Wer wohl seine Hosen bügelt? Kann er schlussendlich vielleicht sogar bügeln?

Als mir bewusst wird, was für komplett unpassende Gedanken sich gerade in meinen Kopf geschlichen haben, muss ich unwillkürlich grinsend und beinahe unmerklich den Kopf. Doch ihm entgeht absolut nichts.

"Du bist doch kein Wackeldackel! Herrje, was für eine schreckliche Erziehung musst du wohl erlitten haben, Beth?"

"Nenn mich nicht so!", meckere ich und bemerke, dass meine Stimme dabei quietschig und trotzig klingt. "Mein Spitzname ist Ellie", erkläre ich mit ruhigerer Stimme, um den Ausrutscher noch zu korrigieren.

"Nundenn, Beth,", er spricht langsam und betont, vermutlich weiß er ganz genau wie man jemanden provoziert, "wir sehen uns in einer Stunde." Obwohl seine tiefe Stimme in diesem Augenblick sanft klingt und an den Abschied eines Liebespaares erinnert, klingen seine Worte wie eine messerscharfe Drohung.

Er schließt die Augen und etwas Kaltes schließt sich um meine Handgelenke und Füße. Verwirrt stelle ich fest, dass es eiserne Fesseln sind, die sich genau um meine Knöchel geschlossen haben. Sie drücken nicht, doch sobald ich versuche mich zu bewegen reibt die kalte Oberfläche schmerzhaft an meiner Haut.

Super Plan. Mir den Schlüssel und Fluchtzeit geben und dann fesseln.

Mein Blick sucht nach Marc, damit ich mich beschweren kann, ihm wenigstens irgendetwas an den kopf zu werfen. Doch da wo er stand ist jetzt nichts als Luft. Das Wasser ist noch da, ebenso der Schlüssel. Er muss auch einen haben, natürlich. Hatte er dann von Anfang an geplant, mir einen zu überlassen? Wieso hat man sonst 2 Schlüssel dabei, wenn nicht, um einen wegzugeben?

Außerdem muss das heißen, dass diese Tür nach draußen führt, denn wenn er weg ist und es nunmal keine andere gibt, muss er durch diese den Raum endgültig verlassen haben.

Im nächsten Moment löst sich der leichte Druck an meinen Knöcheln und die Fesseln verschwinden spurlos wieder im Polster der Liege ohne auch nur einen Schlitz oder eine kleine Wölbung zurückzulassen.

Ich bin frei.

Diese Erkenntnis beflügelt mich, sodass ich kaum einen Wimpernschlag später aufrecht auf festem Boden stehe. Keine sonderlich gute Idee. Mein Blickfeld verdunkelt sich zu einem krisselnden schwarzen Nebel und mein Gleichgewicht gerät außer Kontrolle, weshalb ich ein paar Schritte in undefinierbare Richtung taumel und stolpere. Doch ich falle nicht, denn meine Hände finden flüchtig irgendwo Halt, aber dieser Halt rollt ein Stück von mir weg und ich schwanke ungewollt hinterher.

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