Kapitel 1

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Ziellos schlendere ich durch eine schmale Gasse, meinen Blick auf den grauen Stein geheftet, den ich vor mich hin schiebe.

Graue Nebelschwaden hängen tief über der geisterhaften Stadt, rechts und links von mir stehen steinerne Wohnhäuser. Bei einigen sind die Fenster zersplittert, sodass die zerschlissenen Vorhänge wie gefesselte Gespenster aus der Wohnung wehen, wehend aber niemals frei. Ich habe einmal gehört, London sei eine großartige Stadt gewesen, doch wenn man diese Gassen einmal betrachtet kann man es nur als Lüge abstempeln, alles andere wäre sehr unglaubwürdig.

Seitdem ich vor etwas mehr als einem Monat von zuhause weggelaufen bin, lebe ich in einer alten Garage mit nichts darin außer einer alten Decke und ab und zu sogar etwas Essen, falls ich etwas gefunden oder geklaut habe.

Touristen oder Reisende halten mich wohl für eine einfache Ausreißerin, vermutlich wirkt man eben so, wenn man nichts besitzt außer einer lumpigen Decke und dem, was man am Leibe trägt. Dabei war es ganz anders. Schon allein bei dem Gedanken an meine Eltern und dem unterschriebenen Vertrag wird mir übel. Er lag einfach auf dem Tisch, wie ein unwichtiger Einkaufszettel, als wäre es nebensächlich, dabei entscheidet allein dieser Vertrag darüber, ob ich weiterhin als ich leben kann.

Ich habe mir den Vertrag geschnappt und bin einfach aus dem Haus gestürmt, ohne noch etwas zu packen. Diese reflexartige Handlung war das einzig Richtige, dadurch geht es mir nun besser als meinem Bruder. Er wurde sofort gebucht, mein Bruder existiert nichtmehr.

Irgendjemand hat seinen Körper gekauft, wahrscheinlich irgendein alter Mann mit gebrechlichen Knochen und kaputten Gelenken, und nun wandelt er herum, im Körper meines Bruders. Mein Bruder ist zwar physisch nicht tot, aber es gibt ihn nichtmehr. Ich werde nie wieder mit ihm Lachen können, nie wieder über die alten Witze und Geschichten reden können, mich nie wieder mit ihm wegen Belanglosigkeiten streiten.

Besonders darüber habe ich viel nachgedacht in letzter Zeit, sodass ich mir jetzt schon keine Tränen mehr in die Augen steigen, ich habe sie alle bereits verbraucht.

Meinen Vertrag trage ich bei mir, zusammengefaltet und nah an meiner Brust, irgendwie bilde ich mir ein er könnte so als Abwehrschild funktionieren.

In einer schmalen Nische auf meiner rechten Seite erkenne ich den Umriss eines Mannes, er ist groß und kräftig gebaut. Automatisch bildet sich in meiner Magengegend ein Knoten und ich verspüre den Drang sofort umzukehren. Ich will nicht davonlaufen, nicht wie ich es schon einmal getan habe, deshalb gehe ich einfach weiter und senke meinen Blick auf den eintönigen Weg unter meinen Füßen.

"Hey, du." Mir gefriert das Blut in den Adern als der bisher nur als Umriss zu erkennen gewesene Mann seine tiefe Stimme erhebt. Ich lenke meinen Blick auf ihn und bleibe augenblicklich stehen, mit der linken Seite zu ihm. Ich balle meine linke Hand zu einer Faust und lasse all meine Angst und mein Misstrauen dort hinein fließen, um den Rest meines Körpers nicht sichtlich anzuspannen.

"Wieso treibt so eine zerbrechliche Prinzessin hier allein herum?" Mit falscher zuckersüßer Stimme schmeichelt er mir, der drohende Unterton der in seinen Worten mitschwingt jagt mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Seine Züge liegen immernoch im Schatten eines gebrechlich wirkenden Balkons, was die Situation noch unheimlicher macht.

"Lass mich in Frieden", zische ich und will einfach weitergehen, doch er stößt mir unsanft seinen Arm vor die Brust.

"Ach, meine Prinzessin, halte dein vorlautes Mundwerk im Zaun." Allein, wie er mich meine Prinzessin nennt, lässt mich schaudern.

"Nun denn, komm mit mir", weist er mich an, so als würde er wirklich erwarten, dass ich ihm freiwillig und ohne Widerrede folge.

"Nein", antworte ich bemüht selbstsicher, anscheinend eine Spur zu künstlich selbstsicher, denn er lacht verächtlich auf.

"Oh, nun... Du wirst auf jeden Fall mit mir kommen, ich hatte nur gehofft, dass ich dich nicht verletzen muss. Ich will doch solch eine Perfektion nicht zerstören, welch ein Jammer..." Es wirkt, als rede er mir sich selbst und mit jedem Wort stellen sich meine Härchen im Nacken und auf dem Rücken noch mehr auf. Was hat er mit mir vor?

Unüberlegt versuche ich erneut zu fliehen, diesmal in die andere Richtung, doch sofort stolpere ich über sein Bein.

"Du kannst mich nicht täuschen, ich sehe alles." So seelenruhig spricht er, während es in mir weiter zu toben beginnt. In solchen Situationen war ich schon ein paar Male, jedoch hatte ich die begierigen Männer alle loswerden können, bevor es zu etwas hatte kommen können. Doch er hat schnelle Reflexe und anscheinend hat er das schon einige Male getan, das schließe ich aus seiner unnormalen Gelassenheit. Dafür könnte man auch Drogen verantwortlich machen, doch so deutlich wie er spricht, so überlegen er erscheint, halte ich das für ausschließbar.

"Nun komm." Schneidend ist seine Stimme und ich kann mir kein Gesicht dazu vorstellen. Vielleicht ist es vernarbt, mit harten Zügen, dunkle Augen und noch dunklere Haare. Oder vielleicht auch nicht.

Seine ganze Silhouette liegt verborgen in Schatten und Nebel, alles was ich von ihm kenne ist seine grausame Stimme.

In einem Moment der Unachtsamkeit macht er einen Schritt auf mich zu und eine feste, starke Hand greift grob nach meinem Arm, schon kurz danach spüre ich warmen Atem im Nacken.

Er drückt mir plötzlich etwas Nasses über Nase und Mund.

Ich kreische in dieses nasse Etwas, obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist, hier würde mich niemand hören und selbst wenn, dann würde sich niemand darum kümmern. Ich strample und trete und versuche, seine Hand von meinem Gesicht zu ziehen, doch sein Griff ist zu fest, er ist zu stark und ich zittere zu sehr. Ich bemühe mich darum flach zu atmen, doch ich zittere am ganzen Körper und mein Herz schlägt schneller und stärker als je zuvor, es hämmert gegen meine Brust als wolle es fliehen und mich allein hier zurücklassen.

"Schlaf gut, Prinzessin", haucht er in mein Haar, dann verschwimmt meine Sicht und eine plötzliche Müdigkeit übermannt mich.

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