Kapitel 13

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Wieder öffnen sich meine Augen.
Warum? Warum kann ich nicht einfach schon tot sein?
Mein Blick ist nach oben ausgerichtet, die Decke ist näher, als eine Decke jemals sein sollte. Es ist zu wenig Platz übrig, zu wenig Luft und viel zu viel Wasser.
Die Decke ist schwarz, aber im Gegenteil zu den Fliesen sieht sie eher aus wie zerbrechliches schwarzes Glas. Sie passt nicht zu den schwarzen Fliesen an den Wänden. Natürlich ist das mehr als unwichtig, aber solche Gedanken fabriziert man in meinem Zustand offenbar.
Als gäbe es nicht schon genug, worum ich mir momentan Sorgen mache. Wie zum Beispiel der Fakt, dass ich in Kürze unter Wasser treiben werde, ohne die Möglichkeit, wieder aufzutauchen. Aber nein, ich denke natürlich über Wandfarben nach. Sehr hilfreich.
Mein linker Oberarm streift an der Wand, sodass ich Marc abgewendet bin. Mein Kopf wippt leicht hin und her und stoppt auf der linken Seite direkt auf der Höhe einer der glänzenden Kacheln. Sie spiegelt so stark, dass ich mich darin sehen kann.
Es ist schwierig, mich wiederzuerkennen. Die unglaublich dunklen Augenringe, die emotionslosen Augen und der beinahe schon desinteressierte Blick. Meine Haare wirbeln um meinen Kopf herum wie dunkle Ölschlieren. In einem Film oder romantischen Buch wäre ich jetzt dieser Beschreibung nach, wohl mit einem Typen im Meer, während wir den Sonnenuntergang beobachten. Oder mit der Familie im Urlaub.

"Warte, Mami, warte!"
"Na komm schon, beeil dich, sonst verpassen wir alle noch den letzten Overhead zum Strand!" Meine Mutter, mein Vater und mein Bruder standen alle zusammen ein paar Meter weiter vorn und ich musste mich unheimlich beeilen, um Schritt halten zu können.
Wir hatten geplant mit dem Overhead (einer Bahn, die etwa 10-20 Meter über dem Boden verläuft) an den Strand zu fahren, doch dann war ich noch gestürzt und hatte mir das Knie aufgeschlagen, sodass meine Mutter es erst noch verband und wir dadurch Zeit verloren. Nun waren wir spät dran und da die Overheads damals nur zur Probe eingesetzt wurden, fuhren sie nicht den ganzen Tag über.
Mit meinen kurzen Beinen und der übergroßen Stoffratte im Arm humpelte ich eher schlecht als recht auf meinen Vater zu. Mein gelbes Kleid, das auch schon bessere Zeiten gesehen hatte, verfing sich irgendwie zwischen meinen Beinen, doch bevor ich erneut fallen konnte, streckte mein Vater seine Arme aus und setzte mich mühelos auf seine Schultern. So drängten wir uns schließlich alle in den Overhead und stiegen nur wenig später direkt am Strand wieder aus.
"Schau mal, Daddy, das Wasser brennt ja!"
"Nein, mein Schatz, das ist nur die Sonne, die sich darin spiegelt, siehst du? Sie verschwindet dort hinten, aber kurz bevor sie das tut, lässt sie alles ein letztes Mal in allen nur erdenklichen wundervollen Farben glänzen."
"Also brennt das Wasser nicht?"
"Aber nein, mach dir da keine Sorgen. Willst du jetzt noch ein wenig mit deinem Bruder schwimmen gehen?"

Die Erinnerung trifft mich wie ein Schlag und bildet einen harten Kontrast zu meiner Gegenwart, denn so ist es leider nicht mehr, ich bin ganz offensichtlich im falschen Film gelandet. Irgendein total durchgeknallter Freak begafft mich dabei, wie ich darum bemüht bin, am Leben zu bleiben und nicht in einer luftdichten Mini-Dusche zu ertrinken.
Psychisch gestörter Freak.Wahrscheinlich macht ihn das einfach total geil.
Psychisch gestörter perverser Freak.
Die Vorstellung daran ekelt mich an. Vorallem, da ich rein gar nichts dagegen tun kann.
Warum ist es auf einmal so heiß hier?
Es ist heiß, viel zu heiß.
Nein... Es ist eher kalt, eisig kalt.
Meine Augen klappen wieder auf und auf einmal ist alles wieder normal, nicht heiß oder kalt. War das ein Stück vom Tod? Wärme und Kälte zugleich, alles auf einmal?
Wasser schwappt über mein Gesicht, als mein Kopf auf die andere Seite kippt. Sanfte Wasserperlen kriechen über meine Wange und Stirn. Dunkle Haare kleben wie ausgefranste Bändel in blankem Chaos in meinem Gesicht, doch ich habe nicht ausreichend Kraft, um sie wieder ins Wasser zu streichen.
Und das Wasser steigt...
Höher höher höher höher höher höher höher höher höher höher höher höher
Er wird mich ertrinken lassen. Warum sollte es ihn auch interessieren, ob ich lebe oder nicht? Er kann sich jederzeit jemand Neuen beschaffen, mit dem er unbegrenzt tun kann, was auch immer er will. Ich werde sterben, er hatte dann seinen Spaß und wird das Ganze noch mehrfach wiederholen. Vielleicht tut er das schon seit Monaten und es wird bereits nach ihm gesucht und vielleicht kam alles längst in den Nachrichten. Das wäre gut möglich, immerhin habe ich meine letzte Zeit irgendwo im nirgendwo verbracht und nicht einmal meine Eltern wissen, wo ich war. Das macht natürlich meine vorherigen Überlegungen zunichte, denn wie sollte mein Verschwinden irgendeine neue Reaktion hervorrufen, wenn ich doch für den Rest der Welt sowieso schon verloren bin?
Niemand hat mein nun endgültiges Fehlen bemerkt und niemand wird es je bemerken. Niemand wird um mich trauern oder sich immer wieder an die guten Zeiten mit mir erinnern, niemand wird ein paar letzte liebevolle Worte an mich richten. Niemand... Im Moment bin ich ein Niemand und das wird sich nicht ändern.
Komische Gedankengänge, die man so hat, wenn einem der Tod in die Augen starrt. Als hätte man dann nichts besseres zu tun, als über die Öffentlichkeit und Nachrichten nachzudenken.
Mein Kopf wippt leicht auf und ab, mein Blick geht einfach nur starr geradeaus und so fixiere ich die geflieste Wand weit hinter der Glasabtrennung. Mein rechtes Auge ist ohnehin geschlossen, da sonst permanent Wasser hineingespült würde. Meine Augen klappen wieder zu, als die nächste kleine Welle in mein Gesicht schwappt und sich wie eine neue Welle aus Erschöpfung, Schmerz und Leid auf meinen gesamten Körper zu legen scheint.

Ruckartig und wie mechanisch heben sich meine Augenlider wieder.
Warum schon wieder?
Die Berührung meiner Nase mit etwas Kühlen hat mich aus dem erschöpfungsbedingten Stand-by-Modus, der meine übermäßigen Gefühle zumindest für eine kurze Zeit abgestellt hatte.
Meine Augen sind zwar offen, doch ich sehe nichts. Beziehungsweise... ich sehe nur schwarz. Was in diesem Fall alles andere als Nichts bedeutet.
Mein Gesicht ist der Decke so nah, dass meine Nase sie sogar berührt. Das Wasser ist also um einiges gestiegen, während ich nichts mitbekommen habe. Dementsprechend war ich wohl ziemlich lange weg. Oder Marc hat die Geschwindigkeit des Wasserzuflusses einfach aufgedreht und dann wieder gebremst, wer weiß, was dieser Psychopath alles so für Ideen hat. Beobachtet er mich immer noch? Oder was sonst tut er gerafe? Vielleicht will ich das lieber gar nicht wissen und alles andere sind nur Spekulationen.
Fakt ist jedoch, dass nun kaum noch Luft zum Atmen übrig ist. Wie lange braucht es, bis ein Mensch ertrinkt? Wird es sehr lang dauern? Hoffentlich geht es schnell. Vielleicht sollte ich mich auch freuen, dass ich ihm dann endlich entwischt bin, auch wenn ich dann dem Tod gehöre. Doch im Moment kann ich nichts anderes fühlen als den Druck, der auf meinem Körper und meinen Lungen lastet und dem Angst- und Panikgefühl vor dem Tod und der Enge. Wenn ich mehr zulassen würde, würde der Ekel und die Abscheu Marc gegenüber wieder übermächtig werden und mich vollkommen verrückt machen.
Der sich verstärkende Druck der Decke gegen meine Nase reißt mich aus meinen Gedanken. Wie lange dauert es noch, bis das Wasser schließlich die Decke erreicht?
Ich lege den Kopf etwas mehr in den Nacken, um besser atmen zu können. Auf Dauer ist das zwar eine sehr unbequeme Pose, doch eine besser Option gibt es momentan für mich nicht.
Die Zeit, die sich bis jetzt anscheinend noch ewig in die Länge ziehen wollte, beginnt nun, zu rasen. Das Wasser steigt immer schneller, mein Puls vervielfacht sich, meine Atemzüge werden kürzer und schnappender. Mein Körper sinkt weiter herab, sodass ich senkrecht in meiner Todesfalle schwimme, mein Kopf bildet fast einen rechten Winkel zum Rest meines Körpers. Die restliche Luft habe ich bereits mehrfach geatmet, weswegen sie nun warm und schwer ist und meine Lungen kaum füllen kann. Meine Augen sind weit aufgerissen und starren gegen die Glasdecke, starren in ein fremdes Gesicht und doch in meines. Mein Mund öffnet sich weiter, um mehr Luft auf einmal atmen zu können, doch Wasser gerät ebenfalls in meine Lunge und ich muss krampfhaft den Hustenreiz unterdrücken. Nurnoch meine Augen und meine Nase sind vom Wasser unbedeckt. Mein ganzer Körper bebt, als das Wasser nun auch allmählich meine Nase bedeckt. Ich halte die Luft an, aber fixiere weiter den Blick meines Spiegelbildes. Es starrt zurück. In einem Blickduell mit mir selbst kämpfe ich weiter um mein Überleben. Mein Körper dreht sich wie von allein, sodass ich einen letzten Atemzug nehmen kann, bevor alle Luft aus meinem sicheren Grab entweicht und durch Wasser ersetzt wird. Selbst der stumpfe Schrei, der meiner Kehle entweicht, findet keinen Weg mehr an die Öberfläche.
Mit meinem eigenen Blick im Auge sinke ich hinab und das Brennen, aus dem ich nurnoch zu bestehen scheine, erlischt mit einem Mal.
Marc ist das Letzte, das mir in den Sinn kommt, bevor ich schließlich irgendwo im nirgendwo verschwinde.

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