16.1 Skiá - Schatten

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Der eiskalte Wind, der Besitz von der endlosen Kammer ergriffen hatte, der durch alle Ritzen tobte und zwischen den Kindern umherfauchte, ließ Dias so sehr frösteln, dass er schon befürchtete, er würde auf der Stelle erfrieren und zu einer glitzernden Statue aus Eis werden. Erebos saß auf seinem Thron und überragte sie um tausende Fuß. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Fast meinte der Junge, dass der dunkle Gott sie angrinste.

„Ein Test?", fragte Vaia verwirrt. Ihr blasses Gesicht sah wie eine Totenmaske aus.

„Natürlich ein Test", erwiderte der Gott mit emotionsloser Stimme, ohne den Mund zu bewegen. „Warum sonst sollte das Labyrinth voller Fallen und Versuchungen sein?"

„Ich – ich dachte nicht –", fing sie an, wurde aber vom dröhnenden Donnern unterbrochen, das ertönte, als Erebos' Fuß auf die Steinplatten trat.

„Natürlich dachtest du nicht!", polterte er. „Du bist eine Sterbliche. Ein niederes Wesen, schwach und machtlos. Du bist der Versuchung erlegen und zahlst den Preis dafür."

Vaias Augenwinken zuckten und sie wandte den Blick zu Boden. Ihre blassen Wangen färbten sich rosa.

„Heißt das", mischte sich Sotiris ein und warf dem Gott einen ehrfürchtigen aber auch wütenden Blick zu, „dass Ihr uns testen werdet?"

„Normalerweise nicht", erwiderte Erebos ohne eine Miene zu verziehen. „Aber so ungerne ich das zugebe", seine Hand hob sich in die Luft und mit ihr zogen sich Schattenflechten- und fäden hinterher, die langsam im Wind tanzten, als wären sie Satyrn, die einen Tanz für die Nymphen aufführten, „eure kleine Gruppe macht sich gut. Zumindest dafür, dass ihr sterbliche Kinder seid."

„D-Dankeschön", sagte Vaia leise.

„Das war kein Kompliment", donnerte der Gott der Dunkelheit erbost. Die tanzenden Schatten verschwanden im Windstoß, als hätten seine Worte sie in die Flucht geschlagen.

Der eiskalte Luftzug ließ Dias alle Haare zu Berge stehen. Es fühlte sich an, als würde Boreas der Nordwind durch den Raum jagen, die Schattenschemen des Erebos jagen und den Kindern dabei die Haut gefrieren. Der Junge griff vorsichtig nach seinem Schwertgriff, der sich zwischen seinen Fingern wie ein Eisklotz anfühlte.

„Das bedeutet, dass ihr es zu einfach hattet!", rief Erebos und schlug mit der Hand auf der Armlehne seines Throns auf. Schattenhafte Steinsplitter wirbelten in die Luft und verflogen einen Augenblick später in schemenhafte, dunkle Winde. „Das Labyrinth ist ein Test und wenn ihr ihn besteht, dann nennt ihr euch Helden. Aber ihr wärt keine Helden, wenn ihr keinen wirklichen Gefahren bestehen würdet. Wirkliche Helden werden mit allem fertig. Selbst, mit den größten Herausforderungen. Sie wagen sich in die Unterwelt, ringen mit Bestien und lassen sich nicht von der Aussicht auf einen Goldschatz ablenken!"

Vaias Gesicht wurde noch ein Stück dunkler, als der Gott sie verspottete. Sie klammerte sich an Sotiris' Schulter und ihre Fingerknöchel stachen weiß hervor.

„Nein", flüsterte Erebos leise. „Ihr seid keine Helden und wenn ihr keine Herausforderungen bekommt, dann werdet ihr auch niemals echte Helden werden. Nein", sagte er noch einmal. „Ich werde euch testen, Kinder des Labyrinthes. Wenn ihr meinen Test besteht, lass ich euch leben. Wenn nicht, dann werde ich meiner Dunkelheit eine weitere Seele hinzufügen und die Flüsse beruhigen können."

„Was meint Ihr damit?", fragte Vaia mit gehauchter, angsterfüllter Stimme. Dias konnte es ihr nicht verübeln. Der Gedanke in die endlose Schwärze des Gottes der Dunkelheit gesogen zu werden, löste bei ihm nicht gerade erregtes Herzklopfen aus.

„Eine Seele wird ausgelöscht", antwortete er, als spräche er über das heutige Wetter. „Wenn ihr ein Teil meiner Dunkelheit werdet, fahrt ihr nicht über Styx in die Unterwelt. Ihr werdet keine Chance auf das Elysium bekommen oder auf ein ewiges Dasein als hüllenloser Geisterschemen. Eure komplette Existenz wird vernichtet, ihr werdet ausgebrannt. Es wäre so, als hätte es euch nie gegeben. Keine Seele im Hades, kein Körper zum Begraben."

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