25.1 Ktíni - Bestien

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Ein schriller Schrei riss Eos aus seinem leichten Schlaf. Seine Hand zuckte automatisch zu seinem Schwert, welches nur wenige Zentimeter von ihm entfernt lag. Feuer schoss durch seinen Körper. Durch seinen Kopf wirbelten unzählige Szenarien; rachsüchtige Götter, wütende Bestien, tödliche Ranken. Der noch schläfrige Junge war drauf und dran alles und jeden zu zerschneiden, der ihm in den Weg springen würde. Dann vernahm er ein aufgeregtes Kreischen und Schluchzen nahm die Luft ein.

„Medeia!" Das war unmissverständlich Lyras Stimme, die von freudigen und überraschten Schluchzern erfüllt war. „Aber wie kann das sein?"

Als Eos sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, meinte er, in einem Traum gefangen zu sein. Lyra drückte ein anderes, etwas kleineres Mädchen fest an sich und ihr Gesicht, welches ihm zugewandt war, war durch zusammengepresste Augen und bebende Lippen definiert.

„Was?", murmelte er halblaut.

„Wo sind wir?", flüsterte Calypso irgendwo hinter ihm.

Orientierungslos blickte Eos sich um. Sie waren nicht mehr in dem Raum, in dem sie sich Schlafen gelegt hatten, so viel konnte er erkennen. Die Wände waren mit seltsamen, schwarzen Steinen ausgekleidet, die in unterschiedlich hellen und dunklen Tönen gehalten war, sodass sich in ihnen ein Muster bildete, welches ein augenscheinlich bodenloses Loch mit schwarzen Flammenzungen darstellte. Über der Schlucht prangte eine grauenvolle Karikatur eines Gottes mit gefletschten Zähnen und wahnsinnigen Augen. Eos dachte sofort an Dionysos.

Mehrere weiße, baumstammdicke Säulen zierten die Wände und unterteilten den Raum in kleine Nischen. Ein hellbrauner, komplett kreisrunder Holztisch nahm den Großteil der Innenfläche des Raumes ein, während von der Decke ein metallener, ovaler Fackelhalter hing, in welchem dutzende Wachskerzen fröhlich verbrannten. Der Qualm der Kerzen sammelte sich unterhalb der Steindecke in kleinen, grauen Wolken.

Der Holztisch war mit allerlei Krimskrams bedeckt; ein Holzmesser, mehrere Platten, dutzende Rollen an Pergament, ein glänzender Kupferbarren, mehrere Glassplitter, eine Phiole mit einer grünlich schimmernden Flüssigkeit, eine dunkelbraune Holzschatulle, der Griff einer Tür und ein kleiner, metallener Gegenstand, der ein wenig an einen Dolch erinnerte.

Doch die größte Ungereimtheit in diesem fremden Raum waren das Mädchen, das Lyra weiterhin an sich presste und der schrecklich blasse Junge mit blonden Locken und aristokratischen Gesichtszügen, der sich an eine Wand gepresst hatte. Seine rechte Hand krallte sich in seinen Gürtel, als würde er dort den Griff einer Waffe erwarten. Sowohl der Junge als auch das Mädchen – Eos ging davon aus, dass es sich um eine von Lyras Schwestern handeln musste – trugen wie sie selbst sandfarbene Gewänder, wobei die Kleidung beider verschmutzt und an den Enden zerrissen waren, als hätten sie harte Kämpfe hinter sich gehabt.

Als Lyra das jüngere Mädchen mit glasigen Augen von sich schob, erhaschte Eos den Blick auf ihr Gewand und sein Magen drehte sich um. Der Stoff von ihrer Kleidung war vollkommen dunkel verfärbt. Im Schein der Kerzen sah es fast schwarz aus, doch Eos wusste genau, um was es sich handelte: getrocknetes Blut.

Dann hatte er sich nicht verhört, als er geglaubt hatte, durch einen Angriffsschrei zu erwachen. Das Mädchen, welches von ihrer älteren Schwester mit zitternden Fingern gehalten wurde, war Medeia, von der Nemesis ihnen erzählt hatte.

„Oh ihr Götter", sagte Lyra laut und unterdrückte ihr Schluchzen nicht. „Ich kann nicht fassen, dass du es bist! Wie bist du hier hergekommen? Wie sind wir überhaupt hier hergekommen? Ach, Medeia!" Sie drückte das Mädchen erneut an sich.

„Lyra", konnte Eos ihre schwache Antwort vernehmen. Es klang kaum danach, als hätte sie ihre Lippen beim Sprechen angestrengt. „Ich weiß nicht, ich –" Sie brach ab.

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