„Könnt ihr mich für ein paar Minuten unterhalten, ehe ich euch überdrüssig werde?", fragte Nemesis und hob bedrohlich ihre rechte Hand, die wie eine schlanke Waffe in der Luft zwischen ihnen schwebte.
„Bitte –", fing Aineas an, aber Nemesis unterbrach ihn mit einem ungeduldigen, lauten Schnalzen der Zunge.
„Rede mir ein weiteres Mal hinein und ich werde euch beide zu wirklichen Käfern verwandeln, du kleiner Narr." Ihr dunkler Blick bohrte sich in Medeia und das Mädchen taumelte.
Aineas allerdings hob den Kopf. Dem Zucken in seinem Körper nach zu urteilen, suchte er Nemesis' Blick und als er ihn gefunden hatte, holte er Luft.
Für töricht und dumm hatte sie den Jungen vor sich nicht gehalten, aber er erhob erneut die Stimme, als würde ein tiefer Todeswunsch ihn dazu bringen.
„Bitte", sagte er mit einer so sanften Stimme, dass Medeias eingefrorener Körper schmolz und sie sich eine Hand vor den Mund schlug, „tut das nicht. Wir sind müde, wir sind geschunden und haben keine Kraft mehr. Was würden wir Euch für eine Unterhaltung bieten, in diesem Zustand? Wir haben nicht einmal mehr Waffen. Das einzige, das wir haben, ist die dünne Kleidung an unserem Körper und ein wenig mehr Proviant, der nicht mehr sehr lange halten wird. Wie könnten wir jemals genug sein, um Euch zu unterhalten?"
Medeia machte sich auf Nemesis' Rage gefasst, dass Aineas es gewagt hatte, erneut zu sprechen, obwohl sie es ihm verboten hatte. In ihrem Kopf konnte sie Theia vor sich sehen, die bereits ihre Hand ausstreckte, um sie mit in die Unterwelt zu nehmen. Sie war bereit, sich von der Göttin vor ihnen auslöschen zu lassen, wenn das bedeutete, sie könnte endlich aufhören, mit dieser alles zerfressenden Schuld zu leben.
„Oh?" Nemesis trat mit schiefgelegtem Kopf einen Schritt zurück. Ihr Blick war interessiert auf den Jungen vor sich gerichtet und eine Augenbraue zuckte in die Höhe. „Wie überaus interessant. Sag bloß, du bist - ", sie stockte und verschränkte die Arme vor sich. „Nein, wohl eher nicht. Oder doch? Oh, gerade bist du sehr interessant geworden, kleiner... Sterblicher." Dieses Mal betonte sie das letzte Wort nicht, als wüsste sie nicht, was sie anderes sagen sollte, sondern eher so, als wüsste sie etwas, was ihr unglaublich viel Freude bereiten würde. Sie grinste ihn an und ihre Zähne blitzten strahlend weiß durch den Gang, als wären sie eine schlackernde Lichtquelle. „Dass sie es gewagt hatte, noch einmal..."
Die Neugierde in ihr brannte durch ihren Körper, aber Medeia traute sich nicht, zu fragen, was die kryptischen Worte der Göttin bedeuteten.
Aineas war still und blickte die Frau vor sich an. „Was meint Ihr?", fragte er geradeheraus.
Das Mädchen zuckte zusammen und glaubte immer mehr daran, dass der Junge vor ihr sterben wollte.
„Ach, du weißt es nicht einmal, nicht wahr?" Nemesis schnaubte leise, was sich in ein Kichern verwandelte. „Wie überaus spaßig. Ich glaube, ich habe gerade einen überaus guten Grund gefunden, dem Olymp einen Besuch abzustatten."
Als wäre er gänzlich unbeeindruckt von der schieren Macht, die Nemesis ausstrahlte, ging Aineas einen Schritt auf sie zu. „Könnt Ihr mich aufklären, was Ihr damit meint? Ich fürchte, ich kann nicht folgen."
Für einen winzigen Moment sah es so aus, als würde das interessierte Licht in Nemesis' Augen flackern und verwischen, aber Medeia wusste nicht, ob es vielleicht auch nur an ihrer eigenen Angst lag, dass sie sich Dinge einbildete, die nicht sein konnten.
„Komm ein wenig näher, Junge", sagte Nemesis ruhig.
Als er ihrer Anweisung folgte und einen Schritt auf die Göttin zutrat, konnte Medeia einen Blick auf sein Gesicht werfen. Aineas hatte einen stoischen Gesichtsausdruck aufgesetzt und in seinen Augen leuchtete etwas, was das Mädchen zuvor nicht gesehen hatte. Er wirkte komplett von sich überzeugt. Es sah aus, als würde Aineas denken, er könnte die Göttin der Rache in einem Zweikampf besiegen. Sie wusste, dass er eine gewisse Arroganz beherbergte, aber diese war nach der ersten Begegnung mit dem Minotaurus geschrumpft und beinahe verschwunden. Was veranlasste ihn dazu, erneut in seine alten Muster zu verfallen?
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Lavýrinthos
Фэнтези"Ängstigt euch nicht vor dem Tod, denn seine Bitterkeit liegt in der Furcht vor ihm." - Sokrates Vielleicht hatten sie Angst. Wahrscheinlich würden sie sterben. Aber aufgeben würden sie ganz sicher nicht. Das Labyrinth würde sie nicht brechen...