Prólogos

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„Wie wahr, wie wahr", sprach König Minos und seine Miene wich einem zufriedenen Lächeln, als würde ein Plan, den er seit Jahren schon ausheckte, nun endlich aufgehen. „Das Labyrinth beherbergt nicht nur den Minotaurus, auch wenn dieser die wohl tödlichste und bekannteste Gefahr ist. In ganz Griechenland redet man von diesem Ungeheuer. Man nennt es eine Abnormität, eine menschenfressende Bestie, von den Göttern gesandt, um die Menschen zu strafen. Und ja, es ist wahr." Er lächelte noch breiter und dieses Mal konnte man seine gelben, schiefen Zähne sehen, die in unpassender Kohärenz zu seinem gepflegten und reich geschmückten Äußeren standen. Auch wenn keiner der Anwesenden auf seine Worte aktiv reagierte, so konnte er von ihren Gesichtern ablesen, dass sie seine Wirkung auf keinen Fall verfehlt hatten.

„Der Minotaurus ist eine Bestie und eine Abnormität. Er entsprang den Lenden meiner lieben Frau, als Strafe der Götter. Doch viel mehr Segen als Strafe sehe ich in ihm. Ich habe ihn mir gefügig gemacht, um mein Reich zu verteidigen. Nie in all den Jahren, die der Minotaurus im schönen Kreta haust, hat man meine Stadt angegriffen. Ich bin ein wahrer Herrscher, ein Herrscher, der seine Bürger schützt. Aber auch ich bin gütig und vermag zu geben."

Die Kinder blickten König Minos ängstlich, zweifelnd und voller Misstrauen an. Sie wurden aus ihren Familien gerissen und es erwartete sie nun nichts weiter als Dunkelheit und der stetige Kampf ums Überleben.

„Ihr seid tapfere Kinder, nicht wahr? Ihr seid aus eurem schönen Athen hergekommen, um nicht nur eine alte Schuld zu begleichen, sondern sogleich die Chance auf unermesslichen Reichtum zu ergreifen." Minos konnte in den Mienen einiger Kinder ablesen, dass sie nur aus diesem Grund hier waren, andere hingegen schienen den Tränen nahe zu sein. „Oh ja, in Gold aufgewogen zu werden... damit hätte man wohl für sein Leben gesorgt, nicht wahr? Ihr könntet all euren Geschwister und euren Eltern ein schönes Leben bescheren. Ihr müsstet nicht arbeiten. Und alles was ihr dafür tun müsst, ist so einfach, dass es schon fast geschenkt ist."

Dieses Mal war sein Lächeln beinahe eine Grimasse. Er verzog die Mundwinkel so weit, dass ein paar der jüngeren Kinder tatsächlich zurückwichen – oder es würden, wären dort nicht die Speerspitzen, die sich in ihren Rücken gebohrt hätten. „Eine mickrige Woche müsst ihr in diesem Labyrinth überleben und wer nach genau sieben Tagen wieder herauskommt, der darf sich einen wahren Helden nennen. Über diesen wachten die Götter und euer Körpergewicht wird mit dem von Gold aufgewogen. Ihr werdet reich und in ganz Kreta wird man eure Namen kennen." König Minos kannte keinen dieser Namen und gedachte auch nicht, sie zu lernen. Niemand war bisher lebend aus dem Labyrinth gekommen – dafür hatte er ja auch gesorgt.

„Meine Wachen werden dafür sorgen, dass ihr unbeschadet und gut vorbereitet in dieses Bauwerk gelassen werdet – wir wollen doch nicht, dass es eine Chancenungleichheit gibt, nicht wahr? Man wird euch ausrüsten. Waffen und Proviant für einige Tage. Da eure Chancen aber ein bisschen zu gutstehen würden, wenn ich euch als solch große Gruppe hineinschicke, werden wir euch in vier Teile spalten. Danach seid ihr auf euch alleine gestellt." König Minos begann nun vor den vierzehn versammelten Kindern langsam auf und ab zu schreiten. Er prägte sich ihre Gesichter nicht ein – sahen sie doch alle gleich aus, mit ihren zarten Zügen, den großen Augen und den kleinen Mündern – sondern entschied viel mehr, welchen von ihnen er mit wem in eine Gruppe steckte. Es würde solch ein Festmahl für seine Bestie sein. Nach sieben langen Jahren wieder frisches, zartes Fleisch.

„Das Labyrinth wurde von meinem abtrünnigen Baumeister Dädalus erbaut. Vielleicht habt ihr seinen Namen schon einmal gehört. Ich bat ihn, ein Heim für meinen Minotaurus zu bauen, damit er nicht aus Versehen einige meiner Bürger als eine Mahlzeit ansehen würde, wisst ihr. Dädalus ist der größte Baumeister seiner Zeit und ich kann ihn nur erneut loben, auch wenn er mich so hintergangen hat. Das Labyrinth ist eine Ansammlung an verworrenen Gängen, dutzenden und aberdutzenden von Räumen und etlichen Sackgassen. Es ist nicht einfach – praktisch unmöglich – sich dort zurechtzufinden, wenn man keine Karte besitzt oder sich wie der gute Dädalus dort drin auskennt. Traurigerweise gibt es keine Karte", fügte König Minos hinzu, doch weder in seiner Mimik noch in seiner Stimmlage war der leiseste Hauch von Bestürzung zu vernehmen. Beinahe zuckten seine Mundwinkel zu einem boshaften Grinsen, aber er konnte sich beherrschen. Er würde noch genug Zeit dafür haben, sein ganzes Vergnügen auszukosten.

„Aber nun. Sicherlich seid ihr schon ganz gespannt darauf, endlich in dieses Abenteuer entlassen zu werden. Ich möchte euch nicht mehr mit meinem Gerede aufhalten. Meine Wachen werden euch trennen, ausrüsten und dann zu den unterschiedlichen Eingängen bringen" Er faltete die Hände aneinander und im Licht der Mittagssonne wirkte der schmale Goldreif, den er auf seinem fast gänzlich ergrauten Haarschopf trug, wie ein Diadem aus Lichtflecken. Beinahe so, als hätten die Götter selbst einen Teil des Olymps genommen und Minos damit feierlich gekrönt, um ihn damit zum größten König dieser Welt zu ernennen.

„Sicherlich sehen wir uns in sieben Tagen. Bis dahin wünsche ich euch das meiste Glück dieser Welt, auf das ihr die vielen Gefahren überstehen werdet. Ich werde hier auf euch warten, mit Gold und den köstlichsten Speisen, wie sie selbst den Göttern auf dem Olymp gerecht wären."

Und im Gänsemarsch verließen die vierzehn Kinder den Garten des Königs und gingen geradewegs auf ihr Verderben zu. Der Minotaurus wartete und er hatte Appetit.

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