19.1 Ypéfthynos - Schuld

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„W-Wach auf, Theia", wisperte Medeia leise würgend hervor. Sie drückte ihr Gesicht an die Beine ihrer Schwester. Tränen verschleierten ihre Sicht. Sie konnte nicht atmen. Alles in ihrem Kopf schrie. Es war ein Traum. Es war nichts weiter, als ein Traum. Ihre Schwester lebte. Dieser Streit war doch nichts.

Nur ein Streit. Sie stritten sich häufig. So ein lächerlicher Disput war schnell begraben. Theia würde aufwachen. Und dann würden sie das Kriegsbeil begraben, so, wie sie es immer taten. Es würde keine Auseinandersetzungen mehr geben. Sie würden lachen und sich umarmen.

„Th-Theia, bi-bitte", flüsterte sie gegen den blutgetränkten Hosenstoff ihrer Schwester. Ihre Finger gruben sich tief in ihre eigenen Oberarme. Ihr Schluchzen ließ ihren ganzen Körper erbeben. Jeder Atemzug tat weh. Alles schmerzte.

„Du hast sie viel zu tödlich verletzt", gurrte die heisere Frauenstimme irgendwo hinter ihr. „Ein direkter Stoß durch die Lunge, also wirklich." Ein Schnalzen. „Kurzes Leiden, kurze Schmerzen. Ein typischer Anfängerfehler."

Medeia hatte nicht die Kraft, den Kopf zu heben. Sie wollte die Augen nicht öffnen. Sie konnte nicht zu dem sehen, was sie angerichtet haben sollte.

„Wer sind Sie?", ertönte Aineas' aufgeregte Stimme. Sein Schluchzen krallte sich in ihren Kopf, aber er konnte nicht genug Emotionen aufbringen, damit sie ihm dankbar sein konnte. Er kannte sie nicht. Er konnte ihr Leiden nicht nachvollziehen.

Die Frau lachte hämisch. „Das ihr meinen Namen noch nicht herausgefunden habt, zeugt nicht gerade von Intelligenz. Streit. Zank. Zwietracht." Die letzten drei Wörter hauchte sie in die Luft, jedes ein wenig leiser als das Vorherige.

„Verschwinden Sie einfach!", rief der Junge mit tränengetränkter Stimme.

„Noch nicht. Meine Arbeit hier ist nicht getan." Langsame Schritte erklangen und Medeias geschwärztes Sichtfeld wurde mit weißen und hellblauen Flecken benetzt. „Ich kam, um Zwietracht zu sähen."

„Das haben Sie bereits getan", schrie der Junge laut. Sein Leid war stark.

Aber nicht stark genug, damit sich Medeia darum kümmerte. Es war egal geworden. Egal, ob er weinte und schrie, es brachte ihr ihre Schwester nicht zurück. Nichts konnte das. Warum sollte sie den Kopf heben und sich gegen das Übel wehren, das sie heimsuchte, wenn sie genauso gut aufgeben und fallen konnte?

„Ich habe gesäht und geerntet", stimmte die Frau zu, „aber noch ist es nicht reif. Einen schwachen Willen und einen noch schwächeren Geist brauche ich nicht. Mein Herold muss die Kraft genießen. Wozu sollte ich die Frucht vom Baum pflücken, wenn sich ein Wurm ins Fleisch gegraben hat?"

Ohne eine Waffe konnte Aineas nichts gegen diese Feindin unternehmen. Sie hatten gesehen, dass sie göttliche Kräfte auf ihrer Seite hatte. Das Schwert war durch eine ihrer Handbewegungen zersprungen. Sie hatte Theia jeder Verteidigung geraubt, als ihre Schwester mit dem Speer auf sie zugestürmt war.

„Ich bringe Sie um!", brüllte der Junge.

Sein aggressiver Schritt hallte im ganzen Raum wider, aber es folgte kein zweiter. „Verstecken Sie sich nicht vor mir!", brüllte er. „Ich schwöre bei den Göttern, ich werde Sie umbringen!"

„Du schwörst es?", schnurrte sie. „Ziemlich mutig von dir. Oder aber unglaublich dumm. Einer Göttin zu drohen und zu schwören, sie umzubringen. Wer glaubst du eigentlich, der du bist, Junge?"

Selbst in ihrem kümmerlichen Zustand vernahm Medeia das schreckhafte Atmen des Jungen, gefolgt von einem krächzenden Geräusch, als hätte er versucht, sich zu räuspern. Ihr verzweifelter Versuch, den Kopf zu heben, scheiterte, als sie den rauen Stoff von Theias Hose an ihrer Haut spürte und sich bewusst wurde, dass, sobald sie die Augen weit genug anheben würde, sie ihr lebloses Gesicht sehen würde. Dann hätte sie sowieso keinen Grund mehr, um zu leben. Denn dann wäre ihr Albtraum wahr und ihre Schwester wäre tot.

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