Schüsse

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Wer auch immer behauptet hatte, dass kurz vor dem Ende das ganze Leben an einem vorbeizieht, hatte gelogen. Statt einer Collage meiner Kindheit, meiner Jugend oder meiner tristen Zeit im Minimarkt sah ich in den Sekunden vor dem Schuss nichts. Nichts außer Lilys Gesicht. Ihr Lächeln, ihre Augen, ihre langen Haare, die wie Seide über ihre Schultern gefallen waren.

„Was zur... ?"

Tom ließ mich los und seine verwunderte Stimme neben mir brachte mich dazu, meine Augen zu öffnen. Fast hätten meine Knie unter mir nachgegeben. Vor uns in der Tür stand niemand anderes als Cleo Edavane - in voller Lebensgröße und mit einer Pistole in der Hand. Zu ihren Füßen, direkt vor ihren knallroten Highheels, lag Warburtons Wachmann, eine zähe, dunkle Pfütze unter seinem Kopf.

War sie uns gefolgt? Unmöglich.

„Ah... Cleo! Womit habe ich deinen Besuch verdient?"

Augenscheinlich war Warburton nicht schockiert darüber, dass Edavane in seiner Villa stand und obendrein noch seinen Bodyguard erschossen hatte. Er begrüßte sie wie eine alte Bekannte und es war leicht zu erkennen, dass die beiden eine Vorgeschichte verband, die Warburton uns verschwiegen hatte. Auf den zweiten Blick verrieten seine Augen jedoch, was sein lässiger Ton überspielen sollte: er war genauso erschrocken über Edavanes Erscheinen wie wir.

Edavane trat einen Schritt nach vorne und gab den Blick auf die Person hinter sich frei. Mein Magen schlug einen wilden Purzelbaum und neben mir zog Olivia schockiert die Luft ein, als Rosa mit versteinertem Gesicht ins Zimmer gehumpelt kam.

„Ah natürlich", Warburton schien sofort zu verstehen. Er wirkte nicht mal sonderlich überrascht, „Miss Hall."

Der Hass mit dem er Rosa, nicht Edavane, ansah war so vollkommen, so durchdringend, dass es mich schauderte. Es war fast so als läge einen Fluch in seinen Blick.

„Mir sind interessante Gerüchte zu Ohr gekommen", Edavane sah Warburton prüfend an, der seinen Blick schließlich widerwillig von Rosa abwandte.

Er setzte sich wieder in seinen Sessel und goss sich langsam, kontrolliert, eine Tasse Kaffee ein, über die hinweg er Edavane schweigend musterte.

„Hast du nichts zu sagen?"

„Ich weiß nicht, was für Geschichten Miss Hall dir erzählt hat, aber du wärst nicht hier, wenn du ihr nicht glauben würdest. Was soll ich dir also sagen?"

Neben mir standen die anderen so unbeweglich da als wären sie zu Eis erstarrt. Pyotr sah Rosa herausfordernd an, doch sie hatte stur ihren Blick auf Warburton gerichtet. Es fiel mir schwer, ihren Gesichtsausdruck zu lesen. Edavane lächelte und ein Schauer kroch meinen Rücken runter.

Sie bewegte kaum merklich ihren Kopf und wie auf ein Zeichen erschien einer ihrer Bodyguards und schnitt Ians Fesseln los. Noch bevor der Buchhalter etwas sagen konnte, brachte sie ihn mit einer Geste zum Schweigen.

„Jetzt nicht. Wir reden später. Geh!"

Mit einem letzten tödlichen Blick auf mich verließ Ian das Zimmer, nicht, ohne vorher die Bücher aufgehoben zu haben. Ich hoffte, wir würden uns nicht wiedersehen.

„Was willst du hier, Cleo? Mich umbringen?"

Zu meiner Überraschung klang Warburton noch immer nicht panisch. Er schien überzeugt zu sein, die Situation noch kontrollieren zu können.

Edavane hob skeptisch eine perfekt nachgezogene Augenbraue, aber Warburton hielt ihrem Blick ruhig stand. Es wirkte als würden zwei Raubtiere sich mustern, entscheiden, wer als erster angreifen sollte, abwägen wie ihre Chancen standen. Die Ruhe der beiden entnervte mich. Die ganze Situation wirkte absurd normal für sie. Als würden sie sich jeden Tag mit einer Pistole zwischen sich gegenüberstehen. Gleichzeitig jagten eine Reihe von Fragen durch meinen Kopf: Wo waren Warburtons Sicherheitsmänner? Was hatte Rosa Edavane erzählt, um sie hierher zu bringen? Wie hatte sie es überhaupt geschafft, mit ihr zu sprechen? Und wann? Und vor allem fragte ich mich, ob es auch nur den Hauch einer Chance gab, dass wir hier alle wieder rauskamen. Ich bezweifelte es. Schließlich - und ich hätte nicht sagen können, ob Sekunden oder Minuten vergangen waren - erschien ein kaltes Lächeln auf Edavanes Gesicht.

„Wie hast du auch nur einen Augenblick lang glauben können, dass du mich aus dem Weg räumen könntest?"

„Ich hab' dich offensichtlich unterschätzt. Ein Fehler, der mir nicht noch einmal passieren wird", auf Warburtons Gesicht zeichnete sich das gleiche, kalte Lächeln ab.

„Mit Sicherheit", gab Edavane zurück.

Sie lachte, ein unangenehmes Geräusch, das sich in meine Ohren fraß.

Meine Augen wanderten immer wieder zu der Tür, in der Edavane und Rosa standen. Es war nicht weit bis dahin und doch wagte ich es nicht mich zu bewegen, aus Angst, Warburtons und Edavanes Aufmerksamkeit wieder auf uns zu lenken. Warum war ich panischer als Warburton? Er zeigte noch immer keine Spur von Angst.

Ich wusste nicht, dass ich unterbewusst darauf gewartet hatte, dass es passierte. Dass irgendwas passierte, bis Warburton langsam seine Kaffeetasse wieder auf den Tisch stellte und dann mit einer unwirklich schnellen Bewegung in seine Tasche griff. In der nächsten Sekunde hallte ein Schuss durch den Raum. Noch bevor ich reagieren konnte, bevor mein Hirn wirklich registriert hatte, was geschehen war, packte mich jemand am Arm und zog mich in Richtung Ausgang. Ich duckte mich und rannte, meine Gedanken ein Wirbelwind aus Panik und Verwirrung. Warum lagen Rosa und Edavane am Boden? Für eine grauenhafte Sekunde hatte ich Angst, dass Rosa die Kugel abbekommen hatte, doch als Pyotr zu ihr sprang, sie unsanft auf die Beine zog und in Richtung Ausgang stieß, sah ich, dass sie unverletzt war.

Ein zweiter Schuss. Wir warfen uns förmlich durch die Tür in den Flur, nur, um mit Edavanes Bodyguards zusammenzuprallen, die uns unsanft zur Seite stießen und in den Raum hetzten. Unter uns im ersten Stock hörte ich Schreie und schwere Schritte. Von irgendwoher waren Warburtons Wachmänner aufgetaucht. Was jetzt? Olivia hielt noch immer meinen Arm umklammert. Sie sah nach unten, vorbei an der Glastreppe und fluchte.

„Da unten! Warburtons Männer", rief sie über den Lärm hinweg. Ich folgte ihrem Blick und sah wie einige von Warburtons Sicherheitsleuten in einen Schusswechsel mit Edavanes Männern verwickelt waren. Wir würden nie an ihnen vorbeikommen. Wir schauten uns unschlüssig an und sogar in dem Chaos um mich herum fiel mir auf wie schlecht Tom aussah. Pyotr musste es auch bemerkt haben, denn ohne ein Wort zu sagen, nahm er Toms Arm und schlang ihn um seine Schulter.

Mehr Schüsse. Die Männer kamen die Treppe hoch, offensichtlich auf der Suche nach Warburton und Edavane. Wir mussten hier weg. Ohne Zweifel würden sie uns nicht als Zeugen zurücklassen.

„Kommt!"


Charlie, die Einbrecher und der Diebstahl des JahrhundertsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt