꧁Adrien꧂

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Die Straßen von Paris waren verdreckt. Müll lag überall verstreut herum, nur wenige Ecken waren frei von den stinkenden Sachen. Menschen, vor allem Kinder, lagen zusammengekauert auf dem Boden und beobachteten mich mit großen Augen. Sie musterten jeden meiner Schritte, sahen ihre Eltern an, dann wieder zu mir. Wenn ich einen Jungen entdeckte, der meine Kriterien erfüllte, sah ich ihn mir genauer an. Jedoch blieb meine Suche erfolglos. Der Junge war wie vom Erdboden verschluckt. Ich glaubte aber fest daran, ihn zu finden. Paris war groß, so wie die Slumgebiete. Er war hier irgendwo, ich spürte es.

Aber wo konnte er bloß sein? Hatte er sich irgendwo versteckt? War er vielleicht wirklich schon bei den Befreiten? Täuschte sich mein Gefühl einfach nur? Wütend schlug ich mit meiner Faust auf eine Wand ein. Putz bröckelte leise auf den dunklen Boden, meine Fingerknöchel fingen an zu bluten.

,,Wo versteckt sich dieses verdammte Kind?", fragte ich laut in die Stille. Einige Gesichter sahen mich schockiert an, andere eher mit einer Art Verwunderung. Manche Personen schienen sich aber gar nicht erst für meine Frage zu interessieren, denn sie zuckten bloß mit den Schultern oder hörten mir gar nicht erst zu.

,,Wen suchst du denn?" Ich drehte mich um und erblickte eine junge Frau. Sie musste ungefähr Mitte zwanzig sein. Sie war so groß wie ich, war aber viel dünner und nicht so breit gebaut.

,,Ich glaube nicht, dass du mir helfen kannst", meinte ich abwegig und ging an ihr vorbei. Ich konnte noch sehen, wie sie schief grinste und sich gelassen an die Hauswand lehnte. Sie drehte ihren Kopf zu mir, sah mir mit einem dreckigen Grinsen hinterher.

,,Ich denke schon, dass ich dir helfen kann!", rief sie, ,,Ich bin ein bin ein Meister, wenn es darum geht Personen zu finden."

,,Ach wirklich?", ich drehte mich um und näherte mich der jungen Frau. Noch immer grinste sie. Ich konnte ihr nicht ansehen, ob sie nun log oder nicht. Entweder sie war eine verdammt gute Lügnerin oder sie sagte die Wahrheit. Ob eine von der Straße aber wirklich helfen konnte, glaubte ich nicht. Sicher log sie nur, um meine Zeit zu verschwenden.

,,Gut, wenn du so gut bist, hilf mir!"

,,Wenn ich dir helfe, will ich auch etwas haben." Ich verschränkte meine Arme und musterte sie skeptisch. Ihre Kleidung war dreckig, zerrissen und hatte große bis kleine Blutflecken. Ihre Augen waren in einem gefährlichen Giftgrün, welches nur so strahlte. Ihre langen, roten Haare hatte sie zu einem typischen französischen Zopf gebunden, der ihr bis zur Hüfte reichte.

,,Die Welt ist ein ständiges Geben und Nehmen. Ich gebe dir meine Hilfe und somit das Kind, was du suchst. Ich kriege von dir irgendetwas, was meine Mühen bezahlt."

,,Ich weiß, wie das funktioniert!", fauchte ich sie wütend an. Sie nickte, stieß sich von der Hauswand ab und musterte nun mich. Sie fing wieder an weit zu Grinsen, als sie mit der Musterung meiner selbst fertig war.

,,Dass sich Adrien Agreste höchstpersönlich auf die Suche eines Kindes begibt, hätte ich nicht gedacht. Hast du dafür nicht Soldaten, die deine Drecksarbeit erledigen? Hier sogar im wahrsten Sinne des Wortes."

,,Ich würde mich wohl nicht selbst auf die Suche danach begeben, wenn es nicht wichtig wäre."

,,Was hat dieses Kind denn getan, dass es deine ungeteilte Aufmerksamkeit bekommt?"

Ich zog langsam und hörbar die Luft ein. Ich sollte ihr vertrauen, obwohl sie so viele Fragen stellte? Ich konnte, nein, ich wollte mir nicht vorstellen, dass sie mir helfen konnte. Sie war nur ein Mädchen von der Straße. Sie war vielleicht eine Überlebenskünstlerin, aber keine, die Menschen finden konnte.

Ihr zu vertrauen wäre ein Fehler. Noch mehr Fehler konnte ich mir nicht erlauben.

,,Ich denke, diese Unterhaltung ist beendet", meinte ich knapp und wandte mich diesmal komplett von der jungen Frau ab. Zwar konnte ich noch ihren Blick in meinem Rücken spüren, ich ignorierte es aber. Ich wusste nicht viel über die Menschen aus den Slumgebieten, wenn ich aber eines wusste, dann, dass sie unberechenbar waren. Sie waren durch ihr Leben darauf trainiert, die Menschen zu manipulieren, mit ihnen zu spielen und sie für ihre Zwecke auszunutzen. Zudem waren diese Menschen schwer zu töten. Wenn sie ihre Umgebung genauestens kannten, konnten sie sich überall verstecken. Ihnen gehörte dann die Straße. Ob auch das Talent zum Aufspüren da war? Die meisten dieser Menschen kannte genug Leute, um jeden zu finden. Aber ein Deal mit ihnen war gefährlich und riskant.

,,Nein!", meinte ich leise zu mir selbst. Ich war nicht so verzweifelt, dass ich die Hilfe von einem dreckigen Straßenmädchen brauchen würde. Ich würde den Jungen allein finden, ohne Hilfe. Ich würde der Held sein!

Plötzlich bekam drehte sich alles. Die Umgebung um mich herum verschwamm. Dazu kamen diese unerträglichen Bauchschmerzen und Kopfschmerzen. Ich kannte diese Schmerzen! Vor ungefähr einem Monat hatte ich dieselben Schmerzen in meinem Zimmer gehabt. Das Resultat war, dass ich in meinem Zimmer zusammengebrochen und in der Krankenstation aufgewacht war. Hier konnte mir aber keiner Helfen! Niemand würde mir helfen, da ich für alle der Böse war. Die Bewohner würden mich töten oder hier liegen lassen. Der einzige Gedanke, der sie antreiben würde, wäre Rache, Vergeltung und Wut. Ich musste sofort hier weg! Ich schlürfte inzwischen zusammengekrümmt durch die Straßen. Die Menschen sahen mich von allen Seiten an, einige näherten sich mir sogar schon.

Da stolperte ich auf einmal. Ich fiel zu Boden. Ich spürte den Dreck an meinen Händen, in meinen Gesicht und an meiner Kleidung. Gerade wollte ich wieder aufstehen, als ich einen kräftigen Tritt in die Seite bekam. Scharf zog ich die Luft ein und sah nach oben.

Ein hochgewachsener Mann. Er hatte eine Narbe am Auge und gelbe Zähne, die mich voller Spott anlächelten.

,,Halt dich fern von mir, du dreckiges Arschloch!", fauchte ich. Er reagierte, indem er mir noch einen weiteren Tritt in die Magengrube gab. Mein schon schmerzender Bauch krampfte sich zusammen und ließ mich zusammenkrümmen. Ich konnte spüren, wie aus meinen Mundwinkeln Blut floss. Ich spürte noch die weiteren Tritte, war aber unfähig mich zu wehren. Meine Augenlider wurden immer schwerer, die Schmerzen immer schlimmer. Das letzte was ich sah war, wie sich der Mann zu mir runter beugte und leise in mein Ohr flüsterte:

,,Auge um Auge, Zahn um Zahn, Agreste!"

Die Geschichte von Marinette Dupain-Cheng und Adrien Agreste IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt