Möge das Spiel beginnen

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Kims Sicht

  Sie konnte die Sonne beim Aufgehen beobachten. Langsam zog sie sich an den Baumspitzen nach oben und nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie über den Wald hinaus und zeigte sich in voller Pracht, während der Himmel die orangene Verfärbung verlor. Das zarte Blau zwischen den Wolken, die wie Zuckerwatte im Nichts schwebten glich ein wenig ihren Augen. Nur waren ihre kälter. 

Es musste jetzt also so etwas zwischen sechs und sieben sein. Tag zwei in der Hölle. 

Gestern Abend war nicht mehr viel geschehen. Liam hatte den Anfang seiner Besessenheit erzählt, von diesem Café. Sie erinnerte sich an den Tag. An die Bilder, die dieses Arschloch auf der Kamera gespeichert hatte und an den Blick ihres Chefs, dessen Griff zum Telefon um die Polizei zu rufen. 

Doch an Liam erinnerte sie sich nicht. Aber es musste die Wahrheit sein. Es war auch nicht sehr verwunderlich, dass er ihr nicht aufgefallen war. Er war zwar ihr Typ, aber in Mengen machte sie sich keine Mühe, nach diesen Beispielen zu suchen. Sie war sowieso zu sauer gewesen. 

Ein Jahr. Ein Jahr lang verfolgte dieser Fremde ihr Leben. Etwa zwei Monate lang hatte sie nichts davon mitbekommen, denn erst da hat er mit den Briefen begonnen. 

Sie konnte sich nicht an ein Gefühl erinnern, dass sie gewarnt hätte, ihr gesagt hätte: da verfolgt dich jemand. Kim wurde öfter angeguckt, aber das blendete sie größtenteils aus. Es brachte sie nicht nach vorne auf jedes Starren oder Pfeifen zu reagieren. 

Doch Liam musste ihr auch gefolgt sein, immerhin gab es die Fotos und offenbar hatte er Zugang zu ihrer Wohnung gehabt. Sie wusste immer noch nicht, ob er ihren Schlüssel benutzt hatte oder sich einen hat anfertigen lassen. 

Er war ihr nie aufgefallen. Dabei war er niemand der unterging. Er war größer als der Durchschnitt, gutaussehender und diese verdammten Augen. Selbst in der Anfangszeit, wo sie wirklich geschaut hatte, wer es sein könnte. Wen sah sie öfter und wer verhielt sich komisch. Doch sie hatte alle ausschließen können. Nur er war gar nicht erst aufgetaucht in ihrer gedanklichen Liste. Lief sie so verschlossen durch die Welt? Drangen nur noch Kunst und Kaffeegeruch in ihre Welt hinein?

  Kim stand auf und vergrub ihre Zehen im Teppich. Sie hatte zum Schlafen nur ihre Hose ausgezogen, weil sie ihm nicht die Genugtuung geben wollte, die Klamotten in diesem Angeberzimmer anzuziehen, aber das war dämlich. Sie hatte nichts davon in dreckigen Sachen herumzulaufen. Es war kein Sieg für ihn, wenn sie die Kleidung trug und kein Verlust für sie. Es war nur Stoff. Sehr schöner Stoff.

Also ging sie in das riesige Bad und schloss die Tür hinter sich, die sie aber nicht abschließen konnte, denn der Schlüssel fehlte natürlich. Was soll's. 

Sie zog sich komplett aus und stellte sich unter die Dusche. Das warme Wasser prasselte aus der Regendusche auf sie herab und spülte die kurze Nacht von ihr, füllte sie mit neuer Energie. Auch wenn ein Kaffee mehr bringen würde. 

Wie kam sie am besten aus diesem Zimmer raus? Er wollte ihr Vertrauen, ihre Liebe, ihr Verständnis, ihre Seele. Doch all das wollte sie ihm nicht geben, das konnte sie gar nicht. Also schauspielern. Das konnte sie und sie war eine gute Lügnerin, aber das wusste er auch. Wie stellte er sich das nur vor? Wie wollte er es unterscheiden? 

  Unterbewusst bemerkte sie, dass die Kosmetikprodukte, die waren, die sie am liebsten benutzte. Ihre Marke, ihr Duft. Alle neu. Er ist garantiert in ihrer Wohnung gewesen und sie biss sich auf die Lippe. Ein Fremder in ihrer Wohnung und sie hatte es nicht mal bemerkt. Aber darüber durfte sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. 

Liam. 

Er war ein Lügner, verherrlichte ihre Beziehung und sprach von Liebe und Seelenverwandtschaft. Liam war verlorenen in einer Illusion, die, wenn sie zerbrach, wohl ihren Tod darstellte. Darin war sie sich sicher. 

Er war nicht er selbst. Dieses sanfte und liebe Gesicht, welches er gerade trug, war nicht sein echtes. Nur eine Maske, die alle trugen, wenn sie frisch verliebt waren. Ohne Makel, ohne Wunden, ohne Fehler. Doch irgendwann musste man sie abnehmen und das würde auch er. Wenn ihm auffiel, dass er sich in etwas hineingesteigert hatte, das nicht echt ist und nicht wahr werden kann, dann würde seine harte Seite zum Vorschlag kommen. Vielleicht war er ein Schläger, ein Trinker. Ein kompletter Psychopath. 

Sie durfte diese Fassade nicht zerstören, wenn sie hier heraus wollte. Doch wie blieb sie ganz?

  Mit wirklich weichen blauen Handtüchern trocknete sie Haut und Haare und lief dann in den Raum hinüber, in dem sich alles befand, was ein Modeherz höher schlugen ließ. Naja, fast. Keine Schuhe. Keine Taschen. Keine Jacken. Alles darauf ausgelegt, es ihr schwer zu machen, wegzulaufen. 

Kim ließ sich Zeit und durchsuchte alles. Wieder fiel ihr auf, wie teuer diese Klamotten waren, ebenfalls neu und ihr Geschmack. Jedes dieser Stücke könnte in ihrem Kleiderschrank hängen und sie würde es lieben. Aber hier hatte alles so einen Beigeschmack. Es fühlte sich an, als wolle er sie damit bestechen. Doch so sehr vergötterte sie Klamotten dann doch nicht, um ihre Freiheit dagegen einzutauschen. 

Sie entschied sich für nichts besonders aufreizendes. Einfach locker und nicht sehr farbenfroh. Schwarze Unterwäsche, ein hellgraues Shirt, welches vorne am Saum eine kleine Schleife hatte und eine karierte Stoffhose. Sie fand sogar Socken, die den Stil mit ihrer weißen Flauschigkeit abrundeten. 

Auch die ganzen Schminkprodukte waren ihre Lieblinge und seufzend ließ sie das alles stehen, putzte sich nur die Zähne und überlegte, ob man jemanden mit einer Pinzette töten könnte, da er ihr nicht mal eine Nagelschere zutraute, als ein Klopfen ihre vielen Gedanken unterbrach. 

"Kim?" Seine Stimme klang etwas rauer als sonst. 

Sie spülte sich den Mund aus und schaute in den Spiegel. Das Herz lag über ihrem Dekolleté und verhöhnte sie mit dem Blinken.  

Aber gut, das gehörte dazu. 

"Komm rein", rief sie.

Möge das Spiel beginnen...


Tut mir wirklich leid, dass die Updates so schleichend kommen. Ich bin schon so lang in einem Schreibtief, schwer da raus zukommen. Ich bemühe mich aber. 

Hoffe es hat euch gefallen, auch wenn nicht viel Action vorkam. 





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