Bäume als Zäune

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Liams Sicht

Sie zeigte so wenig Emotion wie möglich, sie reagierte kaum auf den Fakt, dass er in ihrer Wohnung gewesen war. Liam war sich sicher, dass ihr tausend Dinge durch den Kopf gingen, aber sehen tat er davon fast nichts.

Auf eine Art mochte er diese Mona Lisa- Seite an ihr, diese Kontrolle, die sie über sich hatte. Aber es machte ihn auch wahnsinnig. Er wollte ihr Gefühle entlocken, er wollte dazu fähig sein, sie fühlen zu lassen.

Ihre einzige Reaktion war, dass sie langsamer kaute, als sie noch vor fünf Sekunden hatte. Er wartete, aber sie sagte tatsächlich gar nichts, also ließ er sich auf dem Bett nieder und beobachtete sie beim Essen.

Sie war wirklich außergewöhnlich schön. Das blonde Haar war etwas glatter als gestern und glänzte im Schein der Sonne golden. Ihre kleinen Hände zerrissen den Toast und ihre Fingerspitzen berührten diese makellosen Lippen, die er schon so lange Küssen wollte. Ihre Bewegungen waren so fließend. In ihren Augen glänzten Kälte und Neugierde.

Er lehnte sich etwas zurück. Sie war einfach ruhig und gefasst, genau wie er. Kim kopierte sein Verhalten. Vermutlich wollte sie erst die Situation einschätzen, ihn einschätzen. Bei der Bushaltestelle hatte sie gemeint, sie hatte ihn sich anders vorgestellt. Ihre Berechnungen waren also falsch und das passierte ihr nicht oft.

„Hättest du mich ernst genommen, wärst du jetzt vielleicht nicht in dieser Lage. Aber du hast dich verschätzt, Liebste. Ich tue, was ich sage", sagte er neckend.

„Offenbar", murmelte sie leicht gereizt.

Sie leckte sich über den zuckerbenetzten Mund und lächelte, als sie bemerkte, wie Liam auf ihre Lippen starrte, als wären sie aus Diamanten. Für ihn waren sie das auch. Für ihn war sie perfekt.

„Wird mir nicht nochmal passieren", sagte sie ernst.

„Sicher nicht." Sie würde ihn nicht nochmal unterschätzen, aber er sie auch nicht.

„Wo sind wir hier? Bäume sind zwar schön, aber zu viele auf einem Haufen versperren einem die Sicht."

„Also ich mag Wälder. Sie sind so beeindruckend und mystisch." Auf ihre Frage antwortete er nicht, es war auch nicht wichtig für sie. Im Umkreis von fünf Kilometern gab es nicht mal eine richtige Straße.

„Ich bin lieber am Meer. Da ist alles offen und es riecht gut. Man kann andere ins Wasser schubsen..." Bestimmt stellte sie sich vor, wie sie ihn irgendwo in der Toskana ertränkte. Danach hörte sich ihr Lachen jedenfalls an.


Kims Sicht

Warum redeten sie jetzt darüber? War doch egal, ob Wälder oder Meere. Sie würde ihm überall gerne den Hals umdrehen.

Zwischen ihnen war eine Spannung, die wirklich zum zerreißen heiß war, aber sie kam sich verarscht vor. Er antwortete nicht auf ihre Fragen und ließ seine Überlegenheit heraushängen. Sein Ego wuchs mit jeder Minute. Das gönnte sie ihm nicht, aber gerade konnte sie nichts dagegen tun.

Er war in ihrer Wohnung gewesen. Hatte er ihren Schlüssel benutzt oder war er anders hinein gekommen? War er schon mal bei ihr gewesen?

„Warum ich? Wenn du deine Dominanz ausleben willst, bist du bei mir an der falschen Adresse. Ich werde nicht vor dir buckeln, vor niemandem."

„Ich weiß. Genau das ist es. Du bist unglaublich stark. Du weißt, was du willst und würdest alles dafür tun. Du bist echt, heuchelst keine Höflichkeiten vor. Wer ist das heutzutage schon noch? Schönheit zu besitzen, obwohl man seine wahre Natur zeigt, das ist Perfektion."

Er stand auf und ging ein paar Schritte auf sie zu.

„Du willst also was Perfektes? Nichts auf dieser Welt ist perfekt. Ich bin schön und intelligent, aber nicht perfekt. Ich interessiere mich nicht für Menschen und vor allem interessiere ich mich nicht für die Liebe. Sollte deine perfekte Partnerin deine Liebe nicht erwidern?"

Vor ihr blieb er stehen und hob seine Hand zu ihrer Wange. Sie ließ es zu, dass er sie berührte und er nutzte die Gelegenheit um mit seinem Daumen über ihre Oberlippe zu streichen.

„Das wirst du eines Tages. Du hälst Liebe für Verlust und für unecht, aber sie ist genau das Gegenteil. Sie ist das heftigste Gefühl, dass du erleben kannst und eröffnet dir eine neue Welt."

„Also diese neue Welt hier, ist etwas klein", meinte sie trocken. Dieser kleine Flecken Erde genügte ihr nicht einmal für eine Woche.

„Wenn du dich mir irgendwann hingibst und unser gemeinsames Schicksal annimmst, dann werde ich dir die Welt zu Füßen legen. Solange: ja, ist deine Welt nur dieses Haus. Aber es ist recht groß, Liebste. Für die ersten Tage bleibt du aber lieber noch hier im Zimmer."

Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und lief zur Tür.

„Und wenn das nie passiert? Wenn ich dich nie lieben werde?" Sie schaute ihm hinterher, an ihm vorbei und erkannte links hinten ein Treppengeländer.

Bereits im Türrahmen stehend sagte er: „Dann wirst du genau hier in sechzig Jahren sterben. In meinen Armen oder über meiner Leiche. Je nachdem wer zuerst abtritt."

Mit diesen Worten, schloss er sie wieder ein und Kim starrte die Tür an.

In sechzig Jahren, also. Niemals würde sie auch nur ein paar Wochen hier verbringen. Woher wollte er denn überhaupt spüren ob ihre Liebe echt war? Das konnte er doch nicht unterscheiden, sie war eine gute Schauspielerin und würde alles tun, um zu entkommen. Das wusste er doch.

Somit wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie hier nie wegkommen würde und ihr wurde sofort schlecht.

Ein Gefängnis bewacht von einem einzigen Mann und Tausenden von Bäumen, die ihr allesamt wie Stacheldraht im Weg stehen würden, wenn sie hier herauskam.

Deine Freiheit ist MeinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt