erst Tag zwei

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Kims Sicht

Er war seit ein paar Stunden wieder weg und die Langeweile brachte Kim fast um. 

Das Magazin hatte sie nun schon viermal komplett durchgelesen. Kim hatte damit auf dem Boden gesessen, ist damit durch den Raum gelaufen, hat sogar dabei Liegestütze gemacht. Sie musste ihr Hirn beschäftigten, aber sie lernte schnell und die Worte hatte sie sich bereits eingeprägt.

Gerade war sie dabei Yoga zu machen und versuchte an nichts zu denken, doch das war schwierig für Künstler. Auch hier in diesen einem Zimmer bekam sie Ideen. Leere brachte manchmal bessere Sachen hervor als das Chaos. Doch es war die Hölle es nicht ausleben zu können. Ihr Kopf war kurz davor zu platzen. 

Egal wie gut Liam glaubte sie zu kennen, er verstand sie nicht. Jedenfalls nicht den Teil in ihr, der für ihre Kunst verantwortlich war. Dieser Entzug war grauenhaft und in ein paar weiteren Tagen ohne Papier und Stift würde sie wirklich komplett durchdrehen. Es hatte noch nie einen Tag gegeben an dem sie nicht gemalt hatte. Das Adrenalin von der Entführung und die Neugierde auf Liam waren mittlerweile gesunken. So sehr, dass ihre Kreativität wieder kickte und ihre Finger kribbelten, ihr Kopf juckte. Die Farben, die durch ihre Gedanken flogen wollten raus, doch sie hatte nichts, um sie auszudrücken. 

  "Ach scheiße", rief sie und ließ sich auf die Knie fallen. Diese dämlichen Übungen halfen auch nichts. 

Genervt zog sie wieder das Magazin zu sich und riss an den Seiten herum. 

"Aaah." Mit einer Seite hat sie sich ihren Zeigefinger aufgeschnitten, ein Blutstropfen quoll aus der kleinen Wunde, die schmerzte, als hätte sie sich den Finger abgerissen. Warum taten diese kleinen Dinge immer so unglaublich weh? 

Das Blut tropfte auf eine der Seiten und sie verwischte es. Das Rot wurde weniger intensiver, aber es hatte einen schönen Verlauf über den schwarzen Buchstaben. Einen wirklich schönen Verlauf...


Liams Sicht

Es war eigentlich noch eine Stunde zu früh, um zu ihr hoch zugehen, doch irgendwie hatte er ein seltsames Gefühl. Eine Weile hatte er sich versucht abzulenken, aber jetzt ging es nicht mehr. Mit schnellen Schritten verließ er das Wohnzimmer und eilte die Treppe hinauf. Je näher er der Tür kam, desto unruhiger wurde er. 

Liam drehte den Schlüssel herum und hatte sofort seine Antwort auf das ungute Gefühl. 

Kim saß auf dem Boden, das Magazin hatte sie zerrissen und die Seiten vor sich ausgelegt, sodass sie ein größeres Blatt ergaben. Mit ihren Fingern strich sie sanft über das Papier und verteilte rote Farbe. Nur, dass sie hier keine Farbe hatte. 

Leicht panisch trat er zu ihr und riss sie aus ihrem kreativen Prozess, als er ihre Handgelenke packte. 

Erschrocken schrie sie auf und zuckte heftig zusammen. Sie hatte ihn wohl überhaupt nicht kommen hören. 

"Was machst du denn da?"

"Mach es nicht kaputt", rief sie entsetzt und versuchte ihn wegzudrücken, da er auf die Seiten getreten war. 

Ihre Augen hatten diesen Glanz, den er schon ein paar Mal bei ihr gesehen hatte, wenn sie in ihrer Kunst komplett eingetaucht war. Nur das war ihr in diesen Momenten wichtig, aber ihre Gesundheit war Liam wichtig. Er konnte doch nicht zulassen, dass sie mit ihrem eigenen Blut malte. 

"Hör jetzt auf damit", befahl er geradezu und zog sie auf ihre Füße. 

"Ich bin noch nicht fertig. Lass mich los." Wütend wollte sie ihn schlagen und treten. Er bekam ein Flashback von der Szene an der Bushaltestelle, nur, dass er diesmal keine Brandwunde befürchten musste. 

Diesmal spürte er auch ihre Wut. 

Wie konnte eine Person wütender über die Unterbrechung einer Malstunde sein, als über die eigene Entführung?

Ohne ihr noch mehr wehtun zu wollen, hob er sie auf seine Arme und trug sie ins Bad hinüber, während sie ihn beschimpfte. Er setzte sie auf der Marmorplatte neben dem Waschbecken ab und hielt ihre Hände fest. Er brauchte nur eine Hand um ihre Gelenke zu legen, um sie zu fixieren, doch sie kämpfte immer noch gegen ihn an. So viel Energie in einer so kleinen Person. 

"Lass mich sofort los, Liam. Sofort." Sie zischte die Worte beinahe. 

Er folgte ihren Worten, doch er hatte sich so vor sie hingestellt, dass ihre Beine zwischen seinen eingeklemmt waren. Sie kam nicht weg und funkelte ihn böse an. 

"Was zum Teufel hast du da gemacht?" Auch er war wütend und sein Blut kochte. Allerdings war er wütend auf sich selbst. Er passte hier auf sie auf und bereits am zweiten Tag verletzte sie sich selbst. 

"Ich habe versucht nicht zu explodieren. Jetzt bin ich aber wieder kurz davor."

"Frag mal mich."

"Ich frage dich aber nicht, du elender Mistkerl. Du sagst du kennst mich, aber offenbar hast du keine Ahnung. Du kannst Künstlern nicht jegliche Handlungsmöglichkeit nehmen und erwarten, dass sie sich damit abfinden."

Sie tippte sich mit ihren blutenden Fingern an die Schläfe. "Es ist wie deine innere Stimme nur lauter. Und sie wird immer lauter, je länger du deine Hände still hälst. Wir sind wie Junkies, die unbedingt den nächsten Schuss brauchen. Ich bin süchtig und du setzt mich auf einen kalten Entzug und erwartest, das geht gut?"

Er schwieg, während sie böse Blicke austauschten. 

Irgendwie hatte er das erwartet, ja. Liam war kein Künstler, seine Welt bestand aus Geld und Verträgen, die eingehalten wurden. Gefühle waren da fehl am Platz. Schwarz und Weiß waren seine Farben, doch Kim brauchte mehr. 

Offenbar viel mehr. 

Sein Plan sie abhängig von ihm zu machen, musste er wohl umschreiben. Morgen würde sie sich vermutlich die Arme aufkratzen und wer weiß, was als nächstes kam. 

"Es tut mir leid", flüsterte er. 

Überrascht hob sie eine Augenbraue. "Wie bitte?"

Liam hob seinen Blick und schaute ihr in die durchdringlichen Augen. "Es tut mir leid. Ich habe deinen Drang zur Kreativität unterschätzt. Du bekommst etwas zum Malen, aber bitte", wieder schaute er auf ihre verletzten Finger, "tue dir nicht selber weh."

Einige Sekunden lang schaute sie ihn nur an und schien wohl zu überlegen, was er gerade mit seinen Worten bezwecken wollte. Er hätte selber nie geglaubt, dass er sich bei jemanden entschuldigen würde, doch hier stand er und sprach diese Worte zu einem Mädchen, das ihm mehr als seinen Stolz bedeutete. 

"Das passt nicht zu dir", meinte Kim schließlich.

"Ich weiß."

Sie nahm seine Hand vorsichtig in ihre und drehte sie so, dass sie die Brandwunde erkennen konnte, die sie mit ihrer Zigarette dort hinterlassen hatte. Die Haut dort verlor langsam den rötlichen Ton. Mit ihren Fingern strich sie darüber und beide zuckten etwas zusammen. 

"Liam."

"Kim?"

"Leg noch eine Schachtel Zigaretten drauf."


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