Part 5

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Am nächsten Morgen war von all der Entspanntheit und Glückseligkeit nicht mehr viel übrig geblieben. Karin saß angespannt in ihrem Büro und starrte ununterbrochen auf die Uhr. Sie hatte gehofft, dass sich Dr. Franke so früh wie möglich melden würde, aber das tat er nicht. Die Lehrerin wurde immer unruhiger. Wenn Dr. Franke nicht anrief, dann bedeutete das doch, dass die Ergebnisse noch nicht bei ihm angekommen waren... Aber er hatte doch den Expresskurier bestellt!? Es würde allerdings bestimmt etwas länger dauern, wenn sie tatsächlich krank sein sollte. Es gäbe dann immerhin viel mehr zu untersuchen, als wenn alles gut wäre, oder nicht?

Karin schluckte. Na toll. Egal, wie sie es drehte und wendete, entsprechend ihren Schlussfolgerungen war sie definitiv krank. „Aber andererseits handelt es sich um Dr. Franke und bei dem weiß man nie, oder?", wollte sich Karin etwas Mut machen. Sie musste unwillkürlich an den Vaterschaftstest denken. Da hatte er ihre Proben von einem alkoholabhängigen Abrechnungsbetrüger auswerten lassen. Bei diesem Arzt konnte man sich doch also nie sicher sein.

Mit einem kurzen Klopfen betrat Frau Cornelius das Büro. „Guten Morgen Frau Vollmer." „Hallo.", grüßte die Angesprochene kurz zurück, bevor sie sich wieder ihren Überlegungen widmete. Die ältere Frau bemerkte deren Abwesenheit und begann stumm die Unterlagen, die für die Konrektorin bestimmt waren, auf ihren Schreibtisch zu legen.

Vielleicht waren die Ergebnisse schon längst da und alles war gut. Vielleicht hatte Dr. Franke gerade eine andere Patientin und deswegen keine Zeit. Oder er frühstückte. Oder er besuchte seinen alten Kommilitonen in der JVA... Als Karin plötzlich ein lautes Klingeln vernahm, schreckte sie hoch und nahm schnell ihren Telefonhörer ab. „Ja?"

Am anderen Ende der Leitung antwortete ihr allerdings niemand. Stattdessen warf ihr Frau Cornelius einen besorgten Blick zu: „Das war die Schulklingel." Oh. Karin war mit ihrem Kopf heute in der Tat ganz wo anders. „Ähm..." Die blonde Frau schaute peinlich berührt auf das Telefon in ihren Händen und legte es langsam zurück an seinen Platz. „Sicher, dass alles in Ordnung ist?", hakte Frau Cornelius noch immer etwas besorgt nach. Karin konnte sich vorstellen, wie sie auf die Sekretärin wirken musste. „Ich warte nur auf 'nen wichtigen Anruf.", erklärte sie ihr merkwürdiges Verhalten.

„Ah ja, da war ein Anruf!", eröffnete Frau Cornelius. Karins Augen wurden bereits größer, bis die ältere Frau fortfuhr: „Ihre Tagesmutter. Frida hat 'ne Münze verschluckt. Ist nicht so schlimm, kommt wieder raus. Nur damit sie Frida beim Wickeln nicht für 'nen Goldesel halten." Frau Cornelius lächelte sie freundlich an, doch Karin erhob sich aufgewühlt von ihrem Platz. Sie hielt diese verdammte Ungewissheit nicht länger aus. Sie brauchte Klarheit! „Vielleicht fahr ich doch mal kurz vorbei." Mit diesen Worten verschwand sie schnellen Schrittes aus ihrem Büro und ließ eine leicht verwirrte Sekretärin hinter sich.




Karin saß in ihrem Auto an ihrem Stammparkplatz der GSG. Die Hände hatte sie noch immer fest ums Steuerrad geschlossen. Sie war erschöpft. Sie wollte nicht aussteigen, wollte nicht wieder in die Schule gehen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Als wäre sie gesund.

Naja, genau genommen bestand immer noch die Möglichkeit, dass sie tatsächlich gesund war. Dr. Franke hatte ihr bei ihrem kurzen Besuch bestätigt, dass er die Ergebnisse noch nicht vorliegen hatte. Er hatte fest versprochen, sie unverzüglich anzurufen, sobald er um ihren Gesundheitszustand wusste und wiederholt, dass sie sich keine Sorgen machen sollte. Karin lachte verzweifelt auf. Wie sollte sie sich bitte keine Sorgen machen?!

Karin spürte, wie die Tränen in ihr aufstiegen. Sie hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. „Das ist doch alles scheiße.", schluchzte die blonde Frau leise und rieb sich über die feuchten Augen. Sie konnte nicht mehr und so langsam wollte sie auch nicht mehr. Sie hatte so schreckliche Angst davor, tatsächlich an Krebs erkrankt zu sein. „Das ist doch scheiße.", wiederholte Karin. Warum denn jetzt? Warum sie? Das machte doch alles überhaupt keinen Sinn.

Eine erste Träne löste sich aus ihrem Wimpernkranz und kullerte langsam ihre Wange hinunter. Sie hatte sich doch seit ihrer Jugend immer richtig ernährt und immer genügend Sport gemacht. Sie hatte all die Jahre über so sehr an sich gearbeitet, so viel Disziplin gezeigt, so gesund gelebt. Und jetzt sollte sie möglicherweise Krebs haben. Ausgerechnet sie. Karin schlug mit der Hand wütend gegen das Lenkrad. Das war doch in keinster Weise fair! Was hatte sie bitte falsch gemacht, dass sie so bestraft wurde?!

Als sich Karin die Tränen aus dem Gesicht wischte und versuchte, sich irgendwie zu beruhigen, kam ihr ein anderer Gedanke in den Sinn. Ein Gedanke, der dafür sorgte, dass sämtlich Wut und Anspannung aus ihr wich. „Oh scheiße. Pit!" Die junge Mutter stöhnte auf und lehnte ihren Kopf nach hinten gegen die Sitzlehne. Ihre Körperhaltung war nun eine völlig andere. Auf einmal wirkte sie hoffnungslos, deprimiert und kraftlos. Pit. Wie sollten Stefan und sie diesen kleinen, liebenswürdigen Jungen denn noch adoptieren, wenn sie tatsächlich ernsthaft erkrankt war? Karin stöhnte erneut. Das war unfair. Pit war ein so toller Junge. Er war witzig, klug und hatte das Herz am rechten Fleck. Er hatte es so sehr verdient, endlich eine Familie zu haben, die sich um ihn kümmerte und ihn ehrlich liebte.

Und jetzt sollte Pit erneut die Chance auf eine glückliche Familie, auf eine Mutter und einen Vater, verwehrt bleiben, weil sich ihr Gewebe dazu entschlossen hatte, beschädigt zu sein? Sie würde Pit die Möglichkeit einer unbeschwerten Kindheit nehmen...

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als es urplötzlich an der Fensterscheibe klopfte. Karin drehte ihren Kopf erschrocken nach links, um Stefans Gesicht auf der anderen Seite der Glasscheibe zu entdecken. „Hey." „Hey.", antwortete sie überrascht von seinem Erscheinen. Was machte er hier? Woher wusste er, dass sie in ihrem Auto saß? Langsam stieg sie aus diesem aus und schloss die Fahrertür hinter sich. Die beiden standen sich nun gegenüber und auch in Stefans Gesicht erkannte sie Verwirrung: „Wo kommst du denn her?" Mist. „Ähm." Was sollte sie ihm bloß sagen?

„Ist alles gut?" Auf einmal erinnerte sich Karin an die Information, die ihr Frau Cornelius vorhin übermittelt hatte. „Ja, ja. Die Tagesmutter hat angerufen. Aber es ist alles halb so wild.", versuchte sie ihren Ehemann zu beruhigen, aber seine Augen zeigten ihr deutlich, dass er ihr nicht ganz glaubte. „Okay." Wie auch, wenn sie so offensichtlich neben der Spur war. „Ich wollte einfach nur auf Nummer sicher gehen und... Alles gut." „Okay. Aber... Irgendwas ist doch!?" Natürlich hatte Stefan sie durchschaut. Es war mehr als eindeutig, dass mit ihr irgendwas nicht stimmte.

„Äh, nein.", wiedersprach Karin dennoch. Sie wollte es dem Braunhaarigen nicht erzählen. Noch nicht. Sie selbst machte sich schon genug Sorgen für zwei und ewig lange konnte es ja nicht mehr dauern, bis Dr. Franke sie endlich anrufen würde. Sie atmete einmal tief durch: „Es ist einfach bisschen viel im Moment. Und ich würde gerne den Termin mit dem Jugendamt wegen Pits Adoption ein bisschen verschieben. Hm?" Das war immerhin die Wahrheit. Sie musste erstmal mit diesem ganzen Chaos fertig werden und wissen, woran sie gesundheitlich war, bevor sie Pit das Leben ermöglichen konnte, das er eigentlich schon lange verdient hatte.

Stefans misstrauischer Blick hatte sich allerdings überhaupt nicht verändert. Er war noch immer verdutzt und völlig durcheinander von ihrem Verhalten. Doch dann lächelte er sie sanft an: „Okay, läuft ja nicht weg, ne?" „Genau." Karin erwiderte sein Lächeln leicht. „Es läuft ja nicht weg."

Sie jedoch schon. Die Konrektorin entfernte sich stumm von ihrem Mann, blieb nach wenigen Schritten aber noch einmal stehen und drehte sich um. „Ahm." Sie warf Stefan einen Luftkuss zu, der sein aufgekommenes Misstrauen zwar auch nicht mehr wegblasen konnte, sie selbst aber ein bisschen besser fühlen ließ. Es tat ihr leid, dass sie sich ihm gegenüber so abweisend verhielt.

Nachdem Karin ein letztes Mal in das Blaugrau seiner Augen geblickt hatte, wandte sie sich ihm wieder ab und setzte ihren Weg zum Schuleingang fort.

Vollske - Nimm dein Schwert mitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt