Part 6

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Kurze Zeit später war die Konrektorin vor ihrem Büro angekommen und trat mit dem Rücken zum Raum gewandt ein. Sie schloss die Tür. Tief ausatmend lehnte sie ihren Kopf mit einem erschöpften „Oh Gott." gegen das kühle Holz. „Frau Vollmer?" Zum zweiten Mal setzte ihr Herz vor Schreck einen Schlag aus und Karin drehte sich verdattert um.

Es war Emma. Die Schülerin schaute sie aus ihrer sitzenden Position entschuldigend an. Sie wartete wohl schon etwas länger auf die Lehrerin. Karin fühlte sich im Augenblick jedoch überhaupt nicht in der Lage, ein halbwegs normales Gespräch zu führen. Warum wollten heute auch alle was von ihr? Konnte sie nicht einfach in Ruhe gelassen werden? „Ist irgendwas?", fragte Emma verunsichert. Sie musste Karins fertigen Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben. Die blonde Frau konnte nicht mehr. Ihre Angst laugte sie aus und die ganze Geheimniskrämerei verschlimmerte das Ganze noch.

Sie atmete einmal laut aus, um sich zumindest ein wenig zu fokussieren, doch dann brachen sämtliche Gefühle aus ihr heraus: „Ja, verdammt. Ich warte auf einen wichtigen Anruf von meinem Arzt, ich hab tierisch Angst vor dem Ergebnis, ich belüge meinen Mann, damit er sich nicht noch mehr Sorgen macht o-oder nicht mit mir reden muss und ich mir noch mehr Sorgen mache! Und jetzt rede ich mit dir, wieso?" Die blonde Frau lehnte sich gegen die weiße Bürotür und schaute Emma aus großen Augen an. Diese erwiderte ihren Blick schulterzuckend: „Sagen Sie's mir." Die Mundwinkel der jungen Mutter hoben sich kurz an. Natürlich konnte Emma nichts machen, um sie aus diesem Schlamassel zu befreien, aber es hatte gut getan, ihren ganzen Ballast einmal laut auszusprechen.

„Aber die Ärzte die machen das ganz oft mit Absicht, damit die sich wie die Helden fühlen, auch wenn nichts ist.", versuchte Emma trotzdem zu helfen, „Das kenne ich von meinem Vater." Karin atmete ein weiteres Mal kräftig aus.

„Ablenken ist gut. Ich geh immer Schuhe kaufen.", schlug die Schülerin aufmunternd vor. „Hmm, davon hab ich genug. Aber ich werde was anderes finden." „Ich komm dann wann anders wieder.", meinte Emma und stand auf. Sie ging auf Karin zu, während sich diese ein wenig vom Ausgang entfernte. „Ja." Das war eindeutig besser so. Die blonde Frau war im Moment zu nichts zu gebrauchen.


Karin stöhnte leise auf und ließ sich in ihren Stuhl sinken. Sie war völlig entkräftet. Wenn Dr. Franke nicht bald anriefe, würde sie noch vollends den Verstand verlieren. Sie stützte ihre Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und legte den Kopf in ihre Hände. Wenn sie sich jetzt schon so furchtbar fühlte, wie sollte das bloß weitergehen, wenn sie wirklich Krebs diagnostiziert bekommen würde? Wie sollte sie das denn verkraften?

Als sie erneut spürte, wie sich Tränen in ihren Augen bildeten, fegte sie mit einer schnellen Armbewegung frustriert einige Ordner vom Tisch. Sie war einfach nur genervt. Genervt von der ganzen Situation und genervt von sich selber. Konnte sie sich nicht wenigstens ein bisschen zusammenreißen!? Doch seit Pit in ihren Gedanken aufgetaucht war, hatte eine weitere große Furcht von ihr Besitz ergriffen. Eine, die sie bisweilen gar nicht richtig auf dem Schirm gehabt hatte, oder einfach erfolgreich hatte verdrängen können. Das ging jetzt allerdings nicht mehr...

Karin machte sich wahnsinnige Sorgen um ihr Umfeld, um ihre Liebsten. Sie hatte zwar eine Scheißangst um sich, aber eine mindestens genauso große um Stefan und Frida. Sollte sie Krebs haben, würde das natürlich nicht zwangsläufig ihren Tod bedeuten. Oft war er zumindest theoretisch heilbar, es gab Chemos und andere Therapien. Sie redete sich immer wieder ein, dass es schon gut ausgehen würde. Doch... was wenn nicht?

Sie war doch noch gar nicht fertig. Stefan und sie, sie hatten doch noch gar nicht richtig angefangen. Das ging doch gerade erst richtig los, das mit ihnen, mit Frida. Karin konnte nicht verhindern, dass die Tränen immer mehr wurden. Vielleicht würde sie ihre Tochter gar nicht aufwachsen sehen. Vielleicht würde sie gar nicht ihr erstes Lied hören. Ihren ersten Martinsumzug. Ihre erste Ballettstunde.

Bei dem nächsten Gedanken liefen ihr die Tränen nun in Strömen über das Gesicht. Sie tropften auf ihr Oberteil und verschleierten ihr die Sicht.

Vielleicht würde sich Frida gar nicht an sie erinnern.


Vollske - Nimm dein Schwert mitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt