1. Hexenjägerin

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Soundtrack: Martin Przybylowicz & Percivail Schuttenbach - Song of the Sword-Dancer aus dem Witcher 3: Wild Hunt Soundtrack. Im externen Link am Ende dieses Kapitels findet ihr außerdem eine Spotify-Playlist mit allen Soundtracks zum Buch.

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Ein halbes Jahr zuvor


Sie war zu stark für sie. Viel zu stark. Magie hagelte auf den dünnen Schleier aus rotgoldener Energie nieder, den Neshira zwischen sich und der Hexe gesponnen hatte. Pfeile aus Schatten durchschlugen den Schild, nur ein Bruchteil ihrer Kraft verrauchte, bevor sie auf Neshiras Fell trafen. Fäulnis breitete sich in ihrem Fleisch aus, und sie kämpfte mit heilender Magie dagegen an.

Noch während sie den Zauber sprach, zog sie einhändig drei Wurfmesser, golden schimmernd, und warf sie im Sprung auf die Hexe. Sie alle trafen ihr Ziel, wie geleitet von göttlicher Hand. Neshira berührte das goldene Glöckchen um ihren Hals und murmelte ein kurzes Dankgebet. Geduckt blickte sie der Frau entgegen, den Speer bereit.

Die Hexe kreischte. Die Macht des Einäugigen flutete in ihren Körper und schien sie von innen zu verbrennen. Doch sie zögerte nicht. Schwarze, schleimige Schatten sammelten sich um ihre Finger, mit verdreckten, spitzen Fingernägeln, als hätte sie die Menschen, die sie tötete, persönlich vergraben. Doch das tat sie nie. Sie aß sie. Mit ihren bloßen Händen. Neshira meinte, getrocknetes Blut auf ihnen zu erkennen.

Sie stach mit dem Speer nach der Hexe, doch der Angriff war schlecht gezielt und die Hexe sprang widerlich grinsend zur Seite, beeindruckend trotz ihres Buckels, der krummen Beine und der wohl schweren Kleidung aus blutigen Stoffetzen, Tierhäuten und Ketten aus toten Tieren und abgeschnittenen Ohren. Das war meine letzte Chance, und ich habe sie verspielt. Neshira wusste nicht mehr, wie lange sie diese Hexe bereits bekämpfte. Eine nach dem anderen hatte sie getötet, den Zirkel ausgerottet, der die fliegenden Inseln terrorisierte, der Menschen, Alte Völker und Anima gleichermaßen mit blendenden Zaubern und faulem Hexenwerk, das ihnen zunächst die Rettung von all ihren Sorgen versprach, ins Verderben stürzte. Diese war eine der letzten sechs der Vetteln, denen sie einen Speer im Herzen versprochen hatten.

Und gerade diese schien heimtückischer zu sein als alle zuvor. Blut und die Rückstände von Zaubern befleckten ihr rotes Fuchsfell wie Brandflecken. Sie hatte ihr all die Macht, die sie vom König erbeten hatte, auf den Hals gejagt, und obwohl sie sie ebenso zu schwächen schien wie ihre von heiliger Magie getränkten Waffen, war ihre Hexenkunst zu stark, als dass sie ihr allein etwas entgegensetzen konnte. Wenn nur einer von ihnen hier wäre. Ein einziger. Markiri. Oder Ruk. Selbst Ophys wäre nun willkommen. Ein wenig Hoffnung geben, allein mit seiner Stimme. Dann hätte ich sie bezwingen können.

Der Zauber traf sie an der Schulter, gerade, als Neshira sich zur Seite warf. Die Wunde, die er schlug, war nicht tief, doch stank, als hätte sie sie bereits seit Wochen und es nie für nötig gehalten, sie zu behandeln. Sie spürte, wie Fieber sich in ihr ausbreitete, Schüttelfrost packte ihre Glieder. Beinahe hätte sie den Speer fallen gelassen. Plötzlich fühlte sie sich entsetzlich schwach. Die Hexe kicherte schrill, als lachte sie sie aus für ihre Gedanken an ihre ehemaligen Gefährten.

Neshira knurrte tief durch die gebleckten Zähne und schnellte auf die Vettel zu. Der Speer wirbelte in ihrer Hand, die Spitze ein Silberstreif aus geschwungenem Metall und golden glühender Magie. Die Waffe war schwer wie Blei in ihrer Hand.

Der erste Versuch traf nicht. Der zweite, kaum einen Wimpernschlag nach dem ersten, bohrte sich in die Schulter der Hexe. Sie heulte auf wie ein Sturm in den Bergen, ihre Hand zuckte vor. Schmutzige Nägel rissen tiefe Kratzer in ihre Schulter, dort, wo die schwärende Wunde des Zaubers lag.

Neshira schrie auf, der Schmerz war schier unermesslich. Hastig taumelte sie aus der Reichweite der Hexe und versuchte, sich zu heilen. Viel Energie blieb ihr nicht mehr.

Sie hob den Speer erneut. Er erschien ihr unförmig und langsam, ihre Wurfmesser waren zu ungenau, ihre Fäuste zu stümperhaft, geschwächt von dem Fluch, die sich wie ein Inferno einen Weg durch ihre Adern bahnte. Sie musste sich ausruhen, weit fort von der Hexe, Energie sammeln und die Krankheit mit Magie aus ihren Adern bannen. Oder sie würde innerhalb weniger Tage dem Wahnsinn anheim fallen und sterben, so, wie es den Bewohnern der Dörfer geschehen war, durch die sie gereist war.

Ein Ausweg blieb ihr noch, und sie hasste es, dass sie es tun musste.

Sie wischte mit der Hand das Hexenblut von ihrem Speer und vermischte es mit ihrem eigenen. Ihre glitschigen Finger schlossen sich um das zweite Amulett, das sie trug – eine kleine Laterne mit einem Bernstein. Still hoffte sie, dass sie durch ihr drohendes Delirium nahe genug an der Geisterwelt war, um sie rufen zu können. Und dass das Hexenblut ausreichend war, um sie anzulocken.

Neshira sprach die Beschwörung, spitze und doch runde Worte, wie in Marmor geschlagene Rosenblüten, während sie langsam rückwärts ging. Erscheine, Königin der Finstersten Schatten. Ich rufe dich, Herrin der Lockenden Laternen, zu mir, um meine Feinde ins Verderben zu stürzen. Ich verspreche dir die Macht, nach der du gierst. Ich verspreche dir ein Leben. Ich verspreche dir einen Tod. Sie verabscheute jede Silbe. Wie die finstere Macht der Hexe perlten sie in die kalte Nachtluft und hinterließen den Geschmack von Asche und Blut auf ihrer Zunge. Oder schmeckt nur die Luft danach?

Der letzte Satz floss über ihre Lippen, und sie wartete auf den schalen Wind, der ihr die Worte aus dem Mund reißen würde. Auf das Glühen von leeren Augen und Laternen in den Untiefen einer schwarzen, fettigen Mähne. Auf ein stummes, zähnefletschendes Lachen und einen Schrei, der ihr jedes Mal aufs Neue das Blut in den Adern gefrieren ließ. Stets hieß es, man sollte niemals Angst vor der Fürstin der Schwarzen Geister zeigen, doch es war unmöglich, sie nicht zu haben.

Doch die Worte verhallten ungehört. Keine Funken stoben plötzlich über den vom Kampf zerpflügten Acker, neben dem das Hexenhaus stand. Kein Schatten schlich durch die Dunkelheit, begleitet von einem leisen, von überall und nirgends kommenden Singen.

Neshira wiederholte die letzten Worte der Formel, diesmal lauter. Für einen Augenblick bildete sie sich ein, das Lachen zu hören, doch es war nur das hämische Keckern der Hexe.

„Was auch immer du rufst, Füchschen", krächzte sie, ihre Zähne glänzten braun trotz des goldenen Scheins, den Neshiras Waffen verströmten, „es kommt wohl nicht. Welche Schande."

Neshira hätte nie gedacht, dass sie die Banshee einmal vermissen würde. Sie kam immer, wann immer man sie rief, ohne jeden Zweifel, sie gierte nach einem kurzen Hauch der materiellen Welt, nach Blut auf ihren Krallen. Neshira rief sie nur, wenn ihr kein anderer Ausweg blieb. Zweimal erst hatte sie sie beschworen, kein einziges Mal seit der Zweiten Katastrophe, seit sie die Mächtigste der Dämonen war, und nun kam sie nicht. Ob sie sich nun wehrt? Ob sie genug von der sterblichen Welt hat? Oh nein, das kann nicht sein. Sie wird sich keinem Ruf widersetzen. Es sei denn... es sei denn, sie weilt bereits auf dieser Welt. Gebunden an jemanden, der ihre Macht missbrauchen will. Beim Einäugigen...

Die Hexe kam immer näher, die Hände ausgestreckt. „Lass mich dein Fell streicheln, Füchschen. Du wirst mein neuer Mantel", schnarrte sie.

„Nicht in diesem Leben", zischte Neshira und warf zwei ihrer Messer. Die Hexe schrie voller Qualen.

Neshira wirbelte herum und rannte, fort von der Hexe, ihre Gedanken ein Schlangennest voller Vettelfinger, Drachenmähnen und Königsschweifen.

Die Hexen der EleutheraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt