Versteckte Erinnerungen (11)

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Der Ozean. Die untergehende Sonne schimmerte auf dem Meer. Wolkenkratzerhohe Wellen, die sich tönend überschlugen und weißen Schaum bildeten. Ich grub meine Füße in den feinen Sand. Oben war er warm, während er unten immer kälter wurde.

Entspannung, bis ich hinter mich blickte. Was lag hinter mir? Palmen, die krank wirkten. Ihre Stämme sahen aus wie zusammen gepresste Kohle und die Palmwedeln vertrockneten alle nacheinander. Die Linie zwischen tot oder verdorben und buntem Leben kam näher auf mich zu. Es verwandelte sich in die Hölle. Ich nahm meine Beine in die Hand und rannte.

Eine Spiegelung. Eine Fata Morgana? Ich bremste ab. Ich trug eine coole, kurze, hellblaue Badehose und ein gestyltes Bikinioberteil, mein Verband fehlte. Woher ich das wusste? Ich sah in einen Spiegel, meinen Zimmer-Spiegel. Ich erkannte ihn an den Rissen direkt in der Mitte auf der Oberfläche. Er fing an sich zu verändern. Die Risse wurden zu einer Spirale gezogen, sie drehten sich in die Mitte als würde das ganze Glas verschlungen werden. Von den Seiten kam immer mehr bis sich die Risse aufdrehten, wie bei einer alten Kamera. Sie verschwanden völlig. Statt mich einmal oder tausendmal wiederzuspiegeln, konnte ich meine Familie beobachten. Meine Familie. Ich war fassungslos: „Mum? Dad? Ich-ich will zu euch", sagte ich, ich vermisste sie aber das spürte ich jetzt erst richtig. Ich war erwachsen, das änderte aber nichts. Sie winkten mir zu. Die Trauer packte mich und ich lief, durch den Spiegel, durch meine Eltern, durch den Spiegel, durch unsere Küche, durch den Spiegel, durch das Einkaufszentrum und wieder durch den Spiegel. Wie ein Portal und das wollte nicht enden.

Ich überschlug mich und landete im Wasser. Ich hielt in letzter Sekunde die Luft an. Es war dunkel. Als ich auftauchte, schien mir die Sonne ins Gesicht. Auf einmal lag ich auf einem Surfboard. Ich setzte mich auf. Ich sah auf den Strand. Wenn man es noch so nennen konnte. Grau oder schwarz. Verbrannt. Nichts existierte mehr.

„Du musst so schnell wie die Welle werden, sonst nimmt sie dich nicht mit. Siehst du sie? Hinter dir." Luc? - Luc! Ich drehte mich um. Er und ich teilten uns das Surfboard. Nur bekleidet mit einer weiß-grauen Badehose. Er war mit Wassertropfen übersät. „Luc, was machst du hier?", ich war ängstlich.
Er war entspannt und dennoch ernst: „Du weißt es ist gefährlich. Du musst die Welle reiten, sonst kommen wir nicht durch. Ich weiß, ein großes Risiko aber wir sind zu zweit, wir schaffen das. Wir kennen die möglichen Konsequenzen, wir haben uns dafür entschieden." Ich war überfordert: „Luc, wieso?"
„Phee, mach! Die anderen haben zu spät angefangen. Wenn das bei uns passiert, sind wir erledigt. Die Welle ist schon zu nah und wir dürfen nicht über die Linie der Verdorbenheit!", fuhr er mich an.
Dann sah ich sie, die 'Anderen'. Es gab noch mehr Surfboards, auf jedem zwei Partner. Mindestens zehn Boards insgesamt.

Er hatte sich nichtmal umgedreht. Ich verstand davon nichts und trotzdem fühlte es sich so bekannt an. Ich sah an ihm vorbei. Eine hochgewachsene, monströse Welle türmte sich vor uns auf. Ich machte mich flach und paddelte. Wir hatten eine gewisse Geschwindigkeit erreicht. Und die Welle kam. Luc hob mich an den Hüften hoch und stabilisierte mich. Er hatte mich fest im Griff. Wir standen hintereinander in Schrittstellung auf dem Surfboard. Wir achteten gegenseitig auf uns. Die anderen hatten es ebenfalls in den Tunnel der Welle geschafft, welcher sich bildete. Das Wasser rauschte tösend in einem Looping zurück ins Meer. Hier war es doch kühler. Plötzlich streichte sein Kinn meine Schulter und er legte es auf meiner ab. Er lockerte seinen Griff und umarmte mich von hinten. Ich spürte seine Wärme, seine Nähe. Ich ließ mich gehen. Innerlich war ich dagegen aber ich unternahm nichts. Ich fühlte mich sicher. Ich genoss es einen Moment, bevor er auch schon wieder vorbei war. Ein Paar nach dem anderen verschwand in der Welle. Manche stürzten sich nach rechts und andere wurden dorthin gezogen. Ein Board flog haarscharf an unseren Köpfen vorbei. „Luc! Pass auf! Was passiert hier zur Hölle?!", schrie ich gegen den Lärm an. „Zur Hölle?! Gutes Stichwort! Die Anderen werden es nicht schaffen, Phee. Wir müssen es schaffen! Du musst bis zu einer Insel kommen! Das Ziel! Weißt du noch?! Hier, Phee! Jetzt! Halt durch!" Ich hatte keine Kraft mehr die Balance zu halten: „Luc!? Ich muss jetzt raus, ich kann nicht mehr. Wir finden einen Weg zurück! Ok?", ich wusste nicht warum ich das sagte.
„Phee! Das können wir nicht machen! Alles! Aber keine Zwischen-_________! Die Nebenwirkungen werden zu stark sein! Wir werden nie wieder raus finden! Wir werden vielleicht sogar nichtmal wissen, wer wir sind!"

Was? Das eine Wort nach 'Zwischen' verstand ich nicht. Es fühlte sich so an als würde mein Körper in tausend Stücke gerissen werden. Die Welle verschwand und wir fielen ein kurzes Stück vor Land ins Wasser.

Ich schnappte nach Luft. Schweißgebadet setzte ich mich auf.
Ich atmete in Stößen. Ich stöhnte.
Es war Mitten in der Nacht.
Luc schreckte hoch. Er schwitzte genauso wie ich. Ich hatte wieder freie Sicht auf seinen Oberkörper. „O-Ozean, We-Welle?", stammelte er verwirrt. Ich nickte nur. Ich hatte etwas in der Hand. Seine Hand. Er schaute nach unten. Wir zogen gleichzeitig unsere Hände weg. Er hielt sie sich, ich rieb sie mir sorgfältig an der Jogginghose ab. Er setzte einen Ist-das-dein-Ernst-Blick auf, bevor wir uns daran erinnerten, was passiert war.

Es gab wohl ein 'wir'. Nur das 'wir' uns nicht mehr daran erinnern konnten.
Das war meine erste Theorie oder wünschte ich es mir insgeheim?
Er sah mich zitternd an: „Was passiert hier mit uns?!"
Die bessere Frage war: 'Was ist passiert?!'
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