Besuch am Abend

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,,Hey Joshi, es tut mir wahnsinnig leid, dass ich dich lange nicht mehr besucht habe. Ich habe so ein schlechtes Gefühl deswegen. Und leer fühle ich mich auch. Es vergeht kaum ein Tag, wo ich nicht jede Minute an dich denken muss. Ich vermisse es, wie du mir beim Fernsehschauen durch das Haar fährst und mich im Arm hältst. Und ich vermisse deine sanfte Stimme, mit der du mir in kurzen Momenten süße Worte ins Ohr gehaucht hast.

Aber am meisten vermisse ich dein hübsches Lächeln, mit welchem du jeden Kunden für dich gewinnen konntest.

A propos: ich habe es endlich geschafft, einen sehr wichtigen Kunden zu gewinnen. Mein Chef war sehr stolz auf mich und hat mir sogar eine Gehaltserhöhung versprochen! Deshalb konnte ich dich leider auch nicht eher besuchen kommen, denn diesen einen Kunden zu gewinnen, hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Ich hoffe, du bist mir deswegen nicht böse."

Langsam streicht er mit den Fingern durch das kurze, grüne Gras und lässt ein paar lose Grashalme langsam zu Boden rieseln. Nachdenklich schaut er sich um. Dann atmet er tief ein, um nicht gleich in Tränen auszubrechen. Anschließend konzentriert er sich wieder auf die Schrift vor sich lässt seinen Gedanken weiter freien Lauf.

,,Ich wollte dir schon letzten Monat erzählen, dass Mia auf dem Gymnasium angenommen worden ist und morgen ihren ersten Unterrichtstag auf der neuen Schule hat. Aber ich glaube, nicht nur für unsere Kleine wird das eine große Umstellung werden...

Jedenfalls hat sie mich gestern gefragt, wann ihr anderer Papi endlich wiederkommt. Mir hat es bei diesem Anblick die Stimme verschlagen und mir war wieder nach Heulen zumute.
Aber bevor du spielerisch die Augen verdrehst: nein, ich habe nicht geweint, aber die Wahrheit konnte ich ihr auch nicht sagen. Ihre Reaktion könnte ich nicht ertragen. Diesen traurigen Blick, den sie mir zuwerfen würde, wenn ich ihr alles gebeichtet hätte. Nein, das würde mein Herz nicht aushalten, aber wäre es ihr gegenüber fair? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht... Ach, könntest du mir bloß sagen, was ich tun soll... "

Er richtet sich ein wenig auf und zieht sich seine Jacke enger um die Schultern, denn plötzlich weht ein frischer Wind und zerzaust ihm das kurze Haar. Die Brise kühlt angenehm sein gerötetes Gesicht und trocknet die zarten Tränen, die ihm verstohlen aus den Augenwinkeln laufen. Er weiß, dass es nicht mehr lange dauert und er würde sich nicht mehr beherrschen können und zusammenbrechen. Josh war ein sehr fröhlicher Mensch und es gab kaum einen Moment, an dem er ihn nicht hat lachen sehen. Er sagte immer, dass er jede Minute auskosten müsste, denn man wüsste ja nie, wann der letzte kommen würde.

Bei diesem Gedanken schluchzt er einmal kurz auf und wischt sich die Tränen weg, die nun unaufhörlich über seine Wangen rinnen.

,,Mein liebster Josh, du fehlst mir so sehr. Warum musstest auch ausgerechnet du gehen? Du warst ein so wundervoller Mensch. Wir alle vermissen dich sehr. Ich würde wirklich alles tun, damit wir uns noch einmal in den Armen liegen könnten. Aber manche Wünsche gehen nie in Erfüllung."

,,Komm Sam, wir müssen langsam los", sagt sein Freund und berührt ihn leicht an der Schulter.

,,Gib mit zwei Minuten", antwortet Sam traurig, denn er will Josh noch nicht verlassen. Abschiede fallen ihm so schwer und dieser hier macht es ihm fast noch schwieriger, denn er weiß nicht, wann er das nächste Mal so viel Zeit mit seinem Josh verbringen kann.

Langsam streicht er mit den Fingerspitzen über die goldene Inschrift des grauen Grabsteines und fährt vorsichtig die eingravierten Buchstaben nach.

,,Ich weiß zwar nicht wann, aber ich komme dich bald wieder besuchen. Nochmal lasse ich dich nicht so lange alleine, das verspreche ich dir. Und du weißt, dass ich Versprechen immer halte. Natürlich weißt du das, du kennst mich wie kein anderer. So wie ich dich.

Ich liebe dich, Josh, und ich werde dich nie vergessen. Wir sehen und schon bald wieder."

Sam dreht sich noch ein letztes Mal um und wirft einen sehnsuchtsvollen Blick auf Joshs Grab, welches bunt mit Blumen geschmückt ist. Dann verlässt er entgültig den Friedhof und ergreift Jacks Hand, der wieder zum Eingang zurückgelaufen ist, damit die beiden ein wenig Privatsphäre haben.

Fast schon automatisch greifen die beiden nach der Hand des jeweils anderen und gemeinsam gehen sie zurück zu ihrer Wohnung.

Boyxboy OneShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt