Kapitel 9

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Erschrocken riss ich aus dem Schlaf hoch. Langsam wurde mir wieder bewusst, wo ich mich befand und ich konnte mich etwas beruhigen. Alle im Raum schliefen noch, wie ich feststellte, als ich mich umsah. Meine Stirn war nass vom Schweiß, den ich schnell mit meinem Ärmel abwischte. Ich hatte wohl nur schlecht geschlafen, denn es war weder Janson noch jemand anderes von WICKED in Sicht.
Mit einem seufzen schloss ich meine Augen. Es war nur ein Alptraum, nichts weiter! Mein Blick fiel auf Newt, der ebenfalls noch schlief. Er sah gerade so friedlich aus. Wie seine blonden Haare ihm in die Stirn fielen. Behutsam strich ich sie ihm zur Seite und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Mein Blick fiel auf den leeren Platz neben ihn, dort wo ich liegen sollte. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken!
Leise stand ich auf und schlich mich aus dem Raum. Ich brauchte unbedingt frische Luft! Also tapste ich barfuß durch den leeren Gang vor uns. Tagsüber herrschte in diesem Gebäude ein Chaos, aber in der Nacht war es still. Da ich mich nicht auskannte lief ich einfach barfuß durch einige Gänge und hoffte zu einem Ausgang zu gelangen. Als ich zu einer Treppe kam, die nach oben führte, zögerte ich nicht lange und stieg empor. Dieses Gebäude würde bestimmt ein Dach haben, also würde ich so an Luft kommen.
Immer schneller rannte ich nach oben, als mich die Erinnerung an den Traum wieder einholte. Es waren zum Teil Erinnerungen an die Zeit bei WICKED gewesen, aber auch andere Dinge. Jetzt, nach Gallys Auftauchen bekam ich Chuck einfach nicht mehr aus dem Kopf. All diese Sachen überschlugen sich und wurden in meinem Schlaf zu einer großen Masse aus quälenden Erinnerungen. Ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt, wo ich wach war, die Gefühle noch schlimmer wurden, und rannte deshalb immer schneller. Es fühlte sich so an, als würden die Erinnerungen auf meinem Brustkorb sitzen und drücken, mir das Atmen unmöglich machen. Ich brauchte dringend frische Luft!
Als ich am obersten Stockwerk ankam und eine Tür erblickte, warf ich mich sofort dagegen und drückte den Griff nach unten. Erstaunlich leise schwang die Tür auf und ich stolperte nach draußen. Sobald mich die kühle Luft umfing, hatte ich das Gefühl, dass die Last auf meiner Brust abfiel und so nahm ich einen tiefen Atemzug. Beinahe schon krampfhaft, während ich die Tränen unterdrückte. Erst, als ich das erfolgreich geschafft hatte, konnte ich mich wiederaufrichten und meine Umgebung wahrnehmen. Ich befand mich auf dem Dach. Und da fiel mir auch die Gestalt auf, die am Rand saß.
„Alles in Ordnung?" Die Stimme erkannte ich sofort. Und als die Person aufstand und zu mir trat, konnte ich auch sein Gesicht sehen. Es war Gally. Ein besorgter Ausdruck lag in seinen Augen. Schwach nickte ich.
„Was machst du hier?", kam direkt die nächste Frage von ihm. Er musterte mich kurz und seufzte dann. „Schlecht geschlafen?" Erneut nickte ich und wischte mir schnell die Tränen aus dem Gesicht. Gally streckte mir seine Hand entgegen, die ich vorsichtig ergriff. Langsam führte er mich zu dem Platz am Rand des Daches, an dem er zuvor gesessen hatte. Er setzte sich wieder hin und unsicher folgte ich seinem Beispiel. Als ich so am Rand saß fiel mir erst auf, wie hoch ich war. Vor mir erstreckte sich ein Meer aus Dächern und hinter allem färbte sich der Himmel langsam orange.
„Wenn ich schlecht schlafe, dann beruhigt mich dieser Anblick immer. Es ist so still in den Straßen, beinahe schon friedlich.", sprach Gally leise. „Und irgendwie erinnert es mich auch an die Lichtung. Bevor alles so chaotisch wurde." Das stimmte. Es war wirklich friedlich hier. Doch mit der Erinnerung an das friedliche Leben im Labyrinth kam auch das schreckliche wieder hervor. All die Verluste.
„Die Lichtung...", hauchte ich, während mir Tränen in die Augen traten. „Damals wurde ich nicht in meinen Träumen heimgesucht..." Ich seufzte.
„Es ist wegen Chuck, oder?" Erstaunt sah ich auf. „Deine Alpträume."
„Ja. Nachts sehe ich auch ihn. Ich erlebe es wieder, wie sein Leben mir durch die Finger gleitet ohne, dass ich etwas dagegen tun kann. Ich sehe, wie sie alle sterben!" Weiter konnte ich nicht sprechen, denn ein Schluchzen durchfuhr meinen Körper. Tränen rannen meine Wange entlang.
„Clarise", begann Gally schließlich und sah zu mir. In seinen Augen spiegelten sich wieder Reue und Schmerz. „Ich weiß was ich getan habe. Ich mag mich zwar nicht daran erinnern, aber ich weiß es. Und ich sehe sein Gesicht jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe." Ich verstand ihn nur zu gut. Und diese Worte zeigten noch mehr, dass es ihm leidtat, was er getan hatte. Gally starrte wieder zum Sonnenaufgang, seine Hand neben sich auf dem Stein gestützt. Vorsichtig rutschte ich näher zu ihm, als ich seinen abwesenden Blick erkannte, und griff nach seiner Hand. Er zuckte zusammen und sah mich sofort an.
„Ich verzeihe dir." Verwunderung lag in seinem Blick. „Du hast schreckliches getan, ja, aber jeder verdient eine zweite Chance! Du wurdest gestochen und hast deshalb nicht selbst entscheiden können, was du tust. Und du bereust es." Ich lächelte ihm traurig zu und sah wieder zum Horizont, der nun immer heller wurde und den dunklen Nachthimmel verdrängte.
Da griff Gally nun ebenfalls nach meiner Hand und drückte sie leicht. „Danke." Ich schüttelte den Kopf. „Du solltest dich nicht bei mir bedanken." Drauf kam keine Antwort und wir schwiegen für eine Weile.
„Weißt du, manchmal bin ich sogar froh, dass es so passiert ist.", sagte ich schließlich, ohne aufzusehen. Dennoch wusste ich, dass Gally mich verwirrt von der Seite musterte. „Manchmal kommt mir der Gedanke, dass es besser so ist. Nicht, dass Chuck gestorben ist, sondern, dass er dadurch viel Leid erspart bekommen hat." Gally schwieg, doch meine Hand ließ er nicht los. „Er ist gestorben mit dem Glauben daran, dass seine Eltern leben, daran, dass wir gerettet werden können. Wenn er jedoch in der Wüste von einem Crank angegriffen worden wäre, wäre das ein viel schlimmerer Tod. All das Grauen, das wir erlebt haben, blieb ihm erspart. Er musste nicht mit ansehen, wie Winston zum Crank wurde und sich selbst erschossen hat!" Bei der Erinnerung an Winstons Tod brach ich ab und wischte mir die Tränen aus den Augen.
„Er hat sich erschossen?" Erst jetzt sprach Gally.
„Ja, wir wurden von Cranks überrascht, als wir von WICKED geflohen waren und er wurde dabei verletzt. Der Virus hat sich zu schnell weiterentwickelt, also wollte er dem ein Ende machen."
Gallys Schultern sackten nach unten und er atmete hörbar aus. Ich gab ihm Zeit das alles zu verkraften, während ich mich mit meinen eigenen Gedanken abmühte. Die Sache mit Chuck hatte ich bis jetzt noch niemandem anvertraut und deswegen hatte ich das Gefühl, dass eine Last von meinen Schultern fiel. Ich schloss meine Augen und ließ zu, dass einige Tränen meine Wange entlangliefen, während ein angenehmer Windhauch meine Haare etwas umherwirbelte.
„Ich verstehe dich.", sagte Gally schließlich, sodass ich meine Augen schnell aufschlug und meinen Kopf in seien Richtung drehte. „Ich verurteile dich nicht für dieses Denken, falls das deine Angst ist." Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das dafür sorgte, dass die Tränen langsam versiegten. Und so saßen wir einfach nur da, Schulter an Schulter, dem jeweils anderen Trost spendend.
„Denkst du, wir können Minho wirklich befreien?", fragte ich schließlich, als sich die Sonne über den Dächern erhob und alles in ein rotes Licht tauchte. „Ich hoffe es sehr. Mein Plan sollte funktionieren. Nur wird es Thomas bestimmt nicht gefallen." Er schnaubte genervt. „Ich bin mir sicher, dass er allein dagegen ist, weil ich den Plan entworfen habe." Dass Gally sich Thomas Abneigung so stark zu Herzen nahm wunderte mich.
„Thomas ist wohl einfach noch sauer. Und wenn ich mich recht erinnere mochte er dich nie so wirklich."
„Danke. Sehr nett von dir das zu sagen.", meinte Gally sarkastisch, was mich zu Grinsen brachte.
„Aber er wird dir hoffentlich auch verzeihen können. Besonders nach allem, was du für uns getan hast." Verwirrt sah Gally mich an. „Du hast uns hinter die Mauern gebracht, gibst uns eine Chance Minho wiederzuholen und hast Newt das Leben gerettet.", zählte ich auf. „Nochmal danke, dass du Newt gerettet hast."
„Ich hatte doch keine andere Wahl. Ansonsten hätte Lawrence vermutlich gedacht, dass er abgehauen wäre..." Er lächelte schief. Doch ich wusste, dass er es nicht nur deswegen getan hatte.
„Wieso ist Minho bei WICKED? Was ist eigentlich alles passiert?" Gally betrachtete mich neugierig. Da er bereits von Winston wusste, brauchte ich das nicht mehr zu erzählen. „Nachdem wir von unseren vermeintlichen Rettern geflohen waren trafen wir auf Brenda und Jorge."
„Das sind eure Freunde, oder? Die beiden, die auch hier sind."
„Ja. Zusammen haben wir es dann zum rechten Arm geschafft, eine Gruppe an Leute, die gegen WICKED waren und wegen denen ich auch zu euch ins Labyrinth kam." Als ich Gallys verwirrten Blick sah, hielt ich inne. Er wusste nicht davon, dass ich für WICKED gearbeitete hatte. Er hatte es sich nur so im Kopf zusammengesetzte, doch die ganze Wahrheit kannte er nicht, als erklärte ich es ihm.
„Ich hatte also Recht? Ihr habt zu ihnen gehört?" Ich nickte. „Nur solange, bis ich WICKED an den rechten Arm verraten habe... Jetzt werden wir von WICKED selbst gejagt." Gally schien das alles noch verarbeiten zu müssen, also ließ ich ihm Zeit. „Wie kommt es, dass Minho jetzt bei WICKED ist?"
„Teresa hat uns verraten. WICKED hat den größten Teil des rechten Arms zerstört und uns mitgenommen. Sie konnten mich befreien, aber Minho ist noch immer in Gefangenschaft."
Gally lächelte mich leicht an. „Dann wird es wohl Zeit, dass wir ihn dort rausholen!" Ich erwiderte sein Lächeln. Es tat wirklich gut mit Gally zu sprechen, denn die Schrecken der Nacht waren längst wieder in Vergessenheit geraten. Da kam mir eine Idee.
„Wenn wir Minho haben, müssen wir schnell wieder zurück. Vince, der Anführer des rechten Arms will mit einem Schiff in See stechen und alle Immunen zum sicheren Hafen bringen. Wenn wir schnell genug sind, erwischen wir das Schiff noch.", erklärte ich, doch er wirkte nur verwirrter.
„Und warum erzählst du mir das?"
„Vielleicht willst du mitkommen? Lawrence scheint nicht unbedingt der Crank zu sein, der dich als einen Freund ansieht..." Schon von Anfang an war mir aufgefallen, dass Lawrence Gally zwar gerettet hatte, aber nicht aus reiner Freundlichkeit.
„Gibt es denn überhaupt jemanden, der mich als Freund ansieht?" Dieser Satz versetzte mir einen Stich. Obwohl Gally nun schon so lange hier zu sein scheint, gibt es niemanden, den er als Freund bezeichnen würde. Obwohl ich ihn vor nicht mal einen Tag noch mit dem Messer bedroht hatte, tat er mir leid. „Ja." Er drehte seinen Kopf zu mir. „Ja, ich sehe dich als Freund an. Und ich bin mir sicher, dass du dort noch mehr finden wirst." Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und mir fiel auf, dass ich ihn jetzt das erste Mal wirklich Lächeln sah.
„Danke. Ich bin mir sicher, dass ich über die Messerattacke von dir hinwegsehen und auch dich als Freund ansehen kann." Nun musste auch ich Lächeln. Er streckte seine Hand aus: „Freunde?"
Ich schlug ein. „Freunde!"

Broken Dreams (Newt ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt