Kapitel 19

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Erst Stunden später fiel mir auf, dass ich gar nicht genau wusste, wie der Kaiser mir Nahrung zugeflößt hatte. Natürlich fragte ich ihn nicht danach. So töricht war ich nicht. Der Kaiser und ich waren seit mehreren Stunden zu Fuß in Richtung Zyon gegangen. Es war fast schon so als würde ich nicht existieren. Er ging vor mir. Er wich jedem Hindernis mühelos aus und obwohl ich sicher war, dass er in normalen Schritten ging, war er dennoch viel zu schnell für mich. Er half mir nicht, wenn ich strauchelte, er hielt nicht an, wenn ich zurückfiel. Er schaute nicht einmal über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ich noch da war. Es schien ihn egal zu sein. Nachdem Motto: Ihr Pech wenn sie mir nicht folgen konnte.
Obwohl die Liste die ich ihm angeboten hatte, und übrigens nicht hatte, sicherlich hilfreich für ihn war und die Sachen verschnellerte, war sie nicht unbedingt notwendig. Auf seine Weise konnte er die entsprechenden Leute bestimmt auch finden. Er ließ mich am Leben. Aber mehr war die Liste nicht wert.
Ich hatte einen vagen Plan wie ich mich unbemerkt von Zyon wegschleichen konnte, ohne das der Kaiser sofort herausfand, dass ich ihn betrogen hatte. Klappte es nicht, würde es sehr schmerzhaft für mich enden. Um mich von meinem möglichen bevorstehenden Tod abzulenken, dachte ich über etwas anderes nach. Über Zyon. Das gespaltene Land. Ein Land wie Zyon gab es kein zweites Mal auf dieser Welt. Es gab viele Geschichten darüber wie es zustande kam, dass die eine Hälfte von Zyon voller Magie war und die andere nicht. Aber die Wahrheit kannte niemand außer die Königsfamilie selbst. So war es Brauch in jedem Land. Die Geschichte des jeweiligen Reiches kannte niemand außer der Königsfamilie selbst. Und die Bürger, die zu dieser Zeit gelebt hatten, gaben die Geschichten zwar weiter, aber unterschiedlich. So gab es tausende verschiedene Varianten der ein und selben Geschichte die Geschichtenerzähler nahmen, um sie nich weiter umzuformen und weiterzugeben bis die ursprüngliche Geschichte nichts mehr mit dem zutun hatte, was heute erzählt wurde. Meine Mutter hatte mir bevor sie gestorben war als kleines Kind immer die Geschichten der sechs Reiche erzählt. Ich war damals noch klein. Erst drei Jahre alt. Aber ich erinnerte mich an jede einzelne davon. Nicht nur weil sie von meiner Mutter kamen, sondern auch, weil die Geschichten so unterschiedlich von denen der Geschichtenerzähler waren, dass ich mich besonders fühlte. Als würden ich und meine Mutter ein Geheimnis teilen. Tja, jeder hatte seine eigene Vision.
Bloß die von Benorien hatte meine Mutter mir nie erzählt. Und ich hatte auch von keinem Geschichtenerzähler je eine gehört.
Meine Gedanken fielen augenblicklich in sich zusammen, als ich sah, dass der Himmel über uns hellblau war. Eine weiche Brise streifte meine Wange und ich hörte Geräusche. Geräusche die zum Wald gehörten. Tiere. Ich hätte vor Erleichterung fast aufgequitscht. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich das vermisst hatte. Von eisiger Stille ummantelt zu werden, hatte eine Bedrückende Wirkung, aber jetzt war ich...erleichtert. Wir hatten den zyonischen Teil des Waldes betreten. Vor uns war ein dünner, schmaler Fluss, der nur langsam floß. Der Kaiser setzte sich direkt daneben. Ich hatte das Gefühl wir waren mehrere Tage unterwegs gewesen, obwohl es wahrscheinlich nur ein ganzer gewesen war. Dankbar für die Pause setzte ich mich gegenüber von ihm hin und fragte mich ob es hier wohl was essbares gab.
Der Kaiser setzte sich in den Schneidersitz und legte die Handflächen auf seine Knie. Seine Augen schloss er.
"Was macht ihr da?", fragte ich irritiert. Meine Angst war noch immer da, wie eine permanente Warnung in meinem Hinterkopf, aber mein Hirn und mein Charakter ließen sich davon nicht abhalten.
"Ich horche", sagte er. Zu meinem Erstaunen hatte ich tatsächlich eine Antwort bekommen. Natürlich kam im nächsten Moment die Enttäuschung, als ich spürte wie meine Kehle zugedrückt wurde und mir die Atemwege abgeschnitten wurden.
"Und jetzt halt die Klappe." Meine Atemwege waren wieder frei. Ich hätte mich beleidigt weggedreht, wenn es etwas gebracht hätte. Aber nunja, es war hoffnungslos, selbst wenn man von der Tatsache absah, dass er alle seine sieben Ehefrauen umgebracht hatte, konnte man sich sicher sein, dass der Kaiser nunja... Grausam war.
Stattdessen also analysierte ich was er gesagt hatte. Er wollte horchen. Wenn man die Umstände betrachtete, war es nicht schwer herauszufinden nach was er horchte. Da er gesagt hatte, wir müssten zu Fuß gehen und er kein Portal geöffnet hatte, nahm ich an, dass er jetzt die Entfernung zwischen hier und Zyon einkalkulierte.
Ich tastete nach einem Faustgroßen Stein auf dem Boden und fand einen, mit rauer kantiger Oberfläche. Nicht ideal, aber besser als nichts. Mit Schwung warf ich ihn direkt in einen Baum in der Nähe von uns. Sofort hörte ich das Flattern von Vögeln, die den Baum verließen und panisches zwitschern. Ich zuckte zusammen, als ich das hörte und entschuldigte mich stumm dafür sie aufgeschreckt zu haben. Unter dem Zwitschern war ein Vogel, der klang als würde er singen. Selbst in Angst, sang er lieblich schön. Von diesen Vögel gab es in Zyon viele, aber ich hörte nur eins raus. Ich wendete meinen Blick zu dem Kaiser, dessen Augen jetzt geöffnet und auf mich gerichtet waren. Kühl, kalkulierend.
Ich wendete den Blick ab.
"Bei unserem jetzigen Tempo sind wir in etwa zwei Tagesreisen von Zyon entfernt." Er sah mich nur an, sagte nichts. Ich konnte nicht deuten, ob er misstrauisch war oder nicht. Ob er überrascht war oder nicht. Im Gegenteil, er wirkte Gleichgültig.
Dann senkte sich sein Kinn. Nur ein kleines bisschen, aber es konnte als Nicken durchgehen. "Gut", sagte er dann und legte sich auf den Rücken. Die Knie angewinkelt, die Hände unter dem Kopf miteinander verschränkt. Die Augen wieder geschlossen. Nach einiger Zeit der Ruhe, klappte ich meinen Mund wieder auf.
"Eure Majestät?" Meine Frage kam vorsichtig. Auch wenn ich versuchte die Furcht rauszuhalten.
"Was?", fragte er mit Kühler scheidender Stimme. Ich blinzelte als ich begriff, dass er mir diesmal nicht wehtat.
"Wieso könnt ihr eure Magie bezüglich Zyon nicht anwenden?"
Stille. Als einige Sekunden des Schweigens verstrichen und ich irritiert war, da er mich weder folterte, noch meine Frage beantworte, begriff ich, dass er überrascht war. Er zeigte es nicht eindeutig, aber seine Worte bestätigten meinen Verdacht.
"Woher wisst ihr das?"
Ich runzelte verwirrt die Stirn.
"Ich habe bloß das offensichtliche ausgesprochen", sagte ich.
"Ihr könnt eure Magie anwenden, um mir wehzutun, aber weder ein Portal wollt ihr öffnen, noch mittels Magie die Entfernung zu Zyon ermitteln."
Der Kaiser neigte den Kopf zu mir.
"Noch etwas, dass ich wissen muss?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Also? Wieso das alles mit der Magie?"
Er wedelte mit seiner Hand und schloss seine Augen wieder. "Ich weiß nicht was in Zyon los ist. Magie ist bestenfalls schädlich." Als er seinen Kopf dem dunklen Himmel zuwandte, wusste ich dass das Gespräch von seiner Seite aus beendet war.
"Gibt es hier etwas zu essen?", fragte ich dennoch.
Einen Augenblick später zog der Kaiser eine Hand unter seinem Kopf hervor und drehte sie einmal. Goldene Lichtfäden zogen sich um seine Finger, dann erschien ein dunkelroter Apfel in seiner Hand. Er reichte ihn mir wortlos. Als ich danach greifen wollte und meine Finger seine berührten, traf mich ein elektrischer Schlag. Wie ein Blitz. Es war so schmerzhaft, dass meine Muskeln sich zusammenzogen und ich drei Meter weg gegen einen Baum geschleudert wurde. Ich fiel auf die Knie und stützte mich mit den Händen ab. Als ich meinen Kopf gepeinigt hob und zu dem Kaiser blickte, sah ich sein amüsierten Gesichtsausdruck und wusste, dass er das absichtlich gemacht hatte. Das er mir wehgetan hatte. Obwohl ich nicht wusste was ihn diesmal verärgert hatte.
"Warum tut ihr mir weh", fragte ich erstickt. Der Kaiser warf mir den Apfel vor die Füße in den Dreck.
"Mir ist langweilig", sagte er und entspannte seinen Körper. "Ich brauche ein neues Spielzeug."
Ohne ein Wort griff ich nach dem Apfel, polierte ihn an meiner Hose sauber und hielt meinen Kopf gesenkt, um meine Tränen zu verbergen. Vor ihm oder vor mir selbst, wusste nicht einmal ich.

The Enslaved GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt