Kapitel 44

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Vanessa

Noch einmal sog ich die Luft ein, doch mein Körper ließ sich nicht mehr kontrollieren. Stiche, die sich wie tausend scharfkantige Scherben anfühlten, bohrten sich in meine Lungen. Er hatte es geschafft! Er hatte mich mit seiner Gewalt umgebracht.

Das musste es sein, dieses Gefühl, das ich gerade empfand. Da berührte mich eine Hand an der Schulter, zog mich auf die Beine, und ich bemerkte erst jetzt, dass ich mich flach an die Fliesen gedrückt hatte. Kein Wunder also, dass ich nicht atmen konnte.

„Vani, alles ok bei dir???" Meine Augen waren immer noch geschlossen, doch Joints Stimme erkannte ich. Während er mit mir sprach, legte er einen Arm um meine Taille und bewahrte mich somit vor einem weiteren Sturz.

„Was verdammt noch mal sollte das?!" schrie mein Vater empört und ich zuckte sofort zusammen. Joint musste den Ruck in meinem Körper gespürt haben, denn ich fühlte, wie er sich von mir löste.

„Komm ihr nicht zu nahe!" Trotz seiner Worte, klang er ruhig und beherrscht. „Verschwinde aus dem Haus!"

„Du solltest dich mal sehen!" sein dreckiges Lachen ertönte. „befiehlst mir, aus meinem eigenen Haus zu verschwinden?" Wieder lachte er. „Geh endlich auf Seite. Das zwischen mir und deiner Schwester geht dich nichts an!"

„Und ob mich das was angeht!" sagte mein Bruder messerscharf. „Und jetzt verschwinde! Ich will mich nicht noch einmal wiederholen müssen!"

Ich traute mich immer noch nicht die Augen zu öffnen, viel zu sehr hatte ich Angst vor dem Blick meines Vaters. Trotzdem konnte ich spüren, dass er sich mir näherte, und eine Gänsehaut überzog meinen Rücken.

„Geh aus dem Weg, Sohn! Oder soll ich dasselbe mit dir anstellen? Du weißt ja, wie sehr ich es hasse, wenn du mir widersprichst. Wirst du danach immer noch so tough sein oder wie ein kleines nichtsnutziges Baby heulen?" Die Worte meines Vaters schnitten wie messerscharfe Stiche in den Körper meines Bruders. Er zuckte wie von einem Blitz getroffen neben mir zusammen. Dann löste er sich endgültig von mir.

Im nächsten Moment nahm ich zwei schnelle Schritte wahr, und hörte dumpfe Schläge. Nein! Ich musste jetzt genauso für meinen Bruder da sein, wie er für mich. Das war ich ihm schuldig. Doch als ich die Augen langsam öffnete, hätte ich sie am liebsten wieder geschlossen. Der überraschte Ausdruck meines Vaters hatte sich seit diesem Augenblick in mein Gehirn gebrannt. Die Hände meines Bruders gegen seine Brust gestemmt, taumelte er mit einigen Schritten rückwärts auf die Treppe zu. An der obersten Stufe angekommen verlor er das Gleichgewicht und ich konnte nur dabei zusehen, wie er nach hinten und die Stufen nach unten stürzte. Die krachenden Geräusche, die die einzelnen Stufen unter seinem Gewicht wiedergaben, verursachten mir Übelkeit. Vor mir stand Joint, der ebenfalls wie betäubt auf die Treppe starrte. Als der Aufprall ertönte, schrie meine Mutter aus vollem Halse. Das weckte mich aus meiner Trance und ich ging zum Treppenansatz, an meinem Bruder vorbei. Das Bild, das mir bot, hätte ich mir nicht mal in meinen schlimmsten Albträumen vorgestellt. Mein Vater lag mit dem Rücken auf dem Boden und ein schmerzerfülltes Gesicht blickte zu mir auf. Sein Arm war unnatürlich von seinem Körper gestreckt und schwellte mit jeder Sekunde zunehmend an. Obwohl er mich gerade eben noch gewürgt hatte, überkam mich Erleichterung, als seine Brust sich leicht auf und ab senkte. Hinter mir konnte ich den warmen Atem meines Bruders spüren, der zeitgleich mit mir ausatmete.

Dann erschien meine Mutter bestürzt an seine Seite, die Hände vor dem Mund und mit weiten Augen näherte sie sich meinem Vater. Ihre Besorgnis versetzte mir einen gewaltigen Stich. Dieser Gesichtsausdruck sollte mir gelten und nicht ihm! Doch sie folgte anscheinend anderen Gesetzen und ging neben ihm in die Hocke, dann legte sie beide Arme um ihn und versuchte ihn auf die Beine zu ziehen. Mein Vater starrte mich immer noch beunruhigend an, und auch ich konnte den Blick nicht abwenden. Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, dass sich das Blatt nochmal so wenden konnte. Als hätte er sich wieder aufgerappelt, riss er die Augen weit auf, stieß kräftig meine Mutter von sich, sodass sie nach hinten taumelte, und stand mit wackelnden Beinen auf. Obwohl er gute 5 Meter von mir weg stand, stieg schon wieder Panik in mir auf.

„Das wirst du noch bereuen!" Sein stechender Blick galt meinem Bruder.

Dieser trat jetzt an meine Seite und ballte die Hände zu Fäusten. Alles was von seinem Körper ausging, strotzte nur so von Stärke.

„Wenn du nicht augenblicklich das Haus verlässt, sehe ich mich gezwungen die Polizei zu rufen!" Wieder blitzte Überraschung in seinen Augen auf, doch er blieb mit verschränkten Armen stehen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie meine Mutter sich wieder in die Dunkelheit zurückzog. Das war sowas von vorhersehbar gewesen, dass es mich noch nicht einmal überraschte. Meine Hand wanderte automatisch zu meinem Hals, an dem es sich heiß anfühlte. Die Abdrücke der Finger meines Vaters dürften jetzt schon sichtbar sein.

„Ach und dann?" entgegnete ihm mein Vater. „Denkst du diese lächerliche Drohung verschreckt mich? Ich kann in dieses Haus jederzeit kommen und gehen, wann ich will."

Joint schnaubte wütend neben mir, ging jedoch auch keinen Schritt nach unten. Dafür setzte sich mein Vater jetzt wieder in Bewegung, sein Ziel war diesmal Joint, den er mit einem drohenden Blick fixierte.

„Mach, dass du aus dem Haus kommst!" Ungläubig starrte ich meine Mutter an, die mit einem Gegenstand in der Hand auf meinen Vater zu lief. Erst nachdem sie die Hand etwas gedreht hatte, erkannte ich das scharfe Messer darin, das genau auf meinen Vater gerichtet war.

Als sich mein Vater keinen Deut bewegte, trat sie noch näher an ihn heran, sodass ihn die Messerspitze fast am Arm berührte. „Mach schon!" Sie sprach durch zusammen gepressten Zähnen, doch mein Vater hatte sie deutlich verstanden. Mit den Händen vor der Brust, ging er rückwärts auf die Haustür zu. Meine Mutter folgte ihm, und als er die Türklinke umfasste, hielt ich den Atem an. Dann zog er sie auf und verschwand dahinter. „Ihr seid ein undankbares Pack!" Sagte er noch, bevor die Tür mit einem lauten Knall zuschlug. Im selben Moment brach meine Mutter weinend zusammen, das Messer fiel klirrend zu Boden und sie gleich darauf. Joint war der Erste von uns, der zu ihr rannte. Ich blieb wie in Totenstarre oben stehen und versuchte alles zu verarbeiten. Das durfte alles nicht wahr sein! Eine Panikattacke überkam mich und ich versuchte krampfhaft nach Luft zu schnappen.

„Vanessa?" Joint stand sofort vor mir und sah mich besorgt an.

„Ich muss hier raus" flüsterte ich.

„Was? Du kannst jetzt nicht ..."

„Ich muss hier sofort raus. Ich bekomme keine Luft!" fast wäre ich gestolpert, als ich die Treppe hinunter hastete. Ich hatte die Haustür schon erreicht, da spürte ich meinen Bruder dicht hinter mir.

„Es ist vorbei, Vanessa. Du bist hier sicher! Ich werde nicht zulassen, dass er dir das ein weiteres Mal antut." versuchte er mich zu beruhigen, doch ich konnte ihm nicht glauben. Es wird nie vorbei sein. Daher riss ich die Tür auf und atmete die kühle Winterluft ein. Meine Lungen brannten als sie sich damit füllten, doch ich verspürte keine Erleichterung. Ich schaute nicht einmal zurück, als ich einfach los rannte.

„Wohin gehst du, Vanessa?" hörte ich meinen Bruder hinter mir schreien, doch ich machte nicht kehrt und antwortete auch nicht. Ich musste jetzt bei ihm sein, mein ganzer Körper schrie nach ihm, fühlte sich von ihm angezogen. Erst wenn ich bei ihm war, konnte ich wieder aufatmen.

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