Kapitel 56

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Vanessa

Mein Vater tot? Das konnte unmöglich wahr sein. Niklas musste einen wirklich schlechten Scherz gemacht haben, doch seine Augen wirkten gar nicht amüsiert und so langsam sickerten seine Worte in mein Bewusstsein. Das Gefühl, das ich dabei empfand war so schmerzvoll, dass ich laut aufschluchzen musste. Verdammt, er war mir doch nicht egal gewesen. Er war doch immer noch mein Vater. Georgs Arme schirmten meine erneuten Schluchzer von der Außenwelt ab. Er jedoch stand ruhig da, als würde ihn der Tod unseres Vaters nicht nahe gehen.

„Was...was ist geschehen?", fragte ich ihn vorsichtig.

Sein Blick war verschlossen. „Er hatte mal wieder zu viel getrunken, hat die Kontrolle über seinen Wagen verloren und krachte gegen einen Baum, er war sofort tot." Die letzten Worte ließen mich zusammen zucken. Wie konnte er sie sagen, ohne eine Regung zu zeigen?

„Woher weißt du, dass er es..." Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, es bereitete mir zu viel Schmerz überhaupt daran zu denken.

„Ich habe seine Leiche gesehen, Vanessa. Er ist tot." Jetzt hielt er mich auf Abstand und sah mir direkt in die Augen. „Er kommt nicht wieder."

„Wie kannst du nur so über ihn sprechen?", empört machte ich mich von ihm los, und stieß gleichzeitig gegen Niklas, der hinter mich getreten war.

„Was sagst du da? Er hat uns das Leben zur Hölle gemacht, wir sollten froh sein, dass ..."

„Georg!", sagte Niklas streng, als ich bei seinen Worten laut nach Luft schnappte. Joint verstummte sofort, doch das half mir kein bisschen. Die kühle Nachtluft brannte in meinen Lungen, meine Beine fühlten sich so schwach an, dass ich glaubte, gleich vorne überzukippen, und dann war da noch Joints gleichgültiger Blick, der meine Gefühle völlig durcheinander brachte. Obwohl ich mir geschworen hatte nicht mehr in dieses Haus zu gehen, sah ich keinen anderen Ausweg und drängte mich an ihm vorbei. Wie konnte er nur so gefühllos sein? Unser Vater war gestorben! Darüber konnte man nicht einfach so hinweg sehen! Ich betrat den dunklen Flur, und fühlte mich augenblicklich fremd in diesem Haus. Es war nicht richtig hier her zu kommen. Doch wo sollte ich sonst hin?

Plötzlich stand eine zierliche Person vor mir.

Meine Mutter.

„Vanessa." Sie schluchzte auf, doch auf mich wirkte ihre Trauer bloß gespielt, ihre Haltung einfach nur lächerlich und dieser traurige Ausdruck in ihren Augen war nur Schein. Sie freute sich wahrscheinlich genauso sehr wie mein Bruder, dass er endlich aus unserem Leben verschwunden war. Dabei konnte ich noch nicht mal wirklich sauer auf die beiden sein. War es nicht das, was ich mir die ganzen Jahre über heimlich gewünscht hatte? Er sollte aus dem Haus verschwinden, aus meinem Leben, mir war sogar egal, ob lebendig oder tot. Doch jetzt fühlte sich mein Leben einfach nur noch wie eine schlechte Ironie an. Er hatte seine schlechten Seiten, das konnte ich nicht abstreiten, er war gewalttätig, auch das wusste ich, doch musste ein Mensch, der Fehler begangen hatte, gleich sterben?

Ich sah zu, wie meine Mutter die Dreistigkeit besaß, ihre Arme nach mir auszustrecken. Eine Umarmung mit ihr, hätte ich damals noch nicht verkraftet. So weit war ich noch nicht, dass sie mir jetzt ihre Zuneigung schenkte.

„Geh aus dem Weg!", schrie ich sie wutentbrannt an, schlug ihre Hände beiseite und flüchtete die Treppe hoch, in mein Zimmer. Mein Verhalten ihr gegenüber war unfair, dass wusste ich, doch das war mir in diesem Moment egal. Ich wollte mit meinem Schmerz und Kummer alleine fertig werden, ich brauchte niemanden, der mich tröstete, das gab es früher auch nicht, und würde es jetzt aufgrund eines plötzlichen Todes auch nicht geben.

Hinter mir konnte ich Schritte hören, achtete jedoch nicht weiter darauf. In meinem Zimmer angekommen, steuerte ich gleich auf meinen Schrank zu, riss die oberste Schublade auf, griff nach der Flasche und öffnete mit einer Handbewegung den Deckel. Mein ganzer Körper glich einem einzigen stetigen Zittern und ich wollte so sehr, dass dieses Gefühl endlich aufhörte. Ich setzte die Flasche schon an meine Lippen an, da hörte ich die Tür quietschen.

„Vanessa." Zwei blaue Augenpaare lagen schwer auf mir. „Bitte, tu das nicht." Niklas kam behutsam auf mich zu, sein Gesicht war gezeichnet von bitterer Trauer. Während er immer näher kam, schüttelte ich wie wild mit dem Kopf und einige Flüssigkeit schwappte aus der Flasche.

„Nein!", sagte ich so laut, dass es auch meine Mutter und mein Bruder gehört haben mussten.

„Du brauchst das Zeug nicht mehr." Seine Hand lag auf dem Gefäß, hinderte es daran weiter an meinen Mund geführt zu werden. Ich schluchzte kläglich auf, als er mich mit diesen strahlenden Augen eindringlich anschaute.

„Ich weiß nicht wohin mit meinen Gefühlen. Ich weiß nicht mal, was ich fühlen soll?!" Wieder schluchzte ich auf, und in der schwachen Sekunde nahm er mir die Flasche ab. Eine einzelne Träne rollte meine Wange hinab. „Bin ich denn ein schlechter Mensch, wenn ich um ihn trauere?"

„Natürlich nicht, mein Liebling." Diese weiche tiefe Stimme. Mit einem einzigen Satz warf ich mich in seine Arme und er hielt mich fest an sich gedrückt.

Mehr Tränen fanden ihren Weg an die Freiheit, und ich versuchte sie nicht mehr zu verbergen.

„Ich werde bei dir sein, du stehst das nicht alleine durch, hast du das verstanden?", sagte er sanft. Es verging eine Ewigkeit, während ich ihm lange in die Augen schaute und dann schließlich nickte. Das genügte ihm als Antwort, fuhr mir sachte durchs Haar und schenkte mir die Zuneigung, nach der ich mich in diesem Moment so sehr sehnte. Ich konnte mir ein Leben ohne diesen Mann nicht mehr vorstellen, er hatte mich auf so viele Arten berührt und sich in einen besseren Menschen gewandelt, dass ich es jetzt auch für ihn versuchen wollte. Er konnte sich ebenfalls auf mich verlassen, wie ich mich auf ihn.

Und ich schwor mir, niemals den Menschen, den ich liebte, jemals wieder zu enttäuschen. 

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