Georg alias Joint

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Joint

Das laute Klingeln meines Handys riss mich unsanft aus meinem Schlaf. Die Anfangsmelodie von meinem Lieblingssong let the sparks fly von Thousand Foot Krutch dröhnte mit seinem ganzen Ausmaß an mein Ohr. Wer rief mich denn mitten in der Nacht an?

„Joint, mach die schreckliche Musik aus." Eine kleine zarte Hand schob mich Richtung Nachttisch, auf dem sich der Störenfried befand. Aufgrund der Dunkelheit im Zimmer, brauchte ich einen Moment bis sich meine Augen daran gewöhnt haben und die Person neben mir erkannten. Es musste das Mädchen sein, das ich letzte Nacht in einer Bar kennen gelernt oder sollte ich eher sagen, aufgerissen hatte? Die Erinnerung daran, dass sie mich fast angefleht hatte, um eine Nacht mit mir, ließ mich schmunzeln. Eine Bitte von einer hübschen Frau konnte ich noch nie abschlagen.

Aber wie war nochmal ihr Name? Grübelnd zog ich die Stirn kraus, während ich einen kurzen Blick über die Schulter warf. Annalena? Nein. Annika? Oder doch nur Anna? Ich wusste es nicht mehr. Und wenn ich ehrlich war, störte mich die Erkenntnis überhaupt nicht. Das Mädchen würde sowieso nicht lange genug bleiben, sodass ich mir höchstens ihre groben Gesichtszüge einprägen musste, bevor ich sie noch versehentlich ein zweites Mal mit nach Hause nahm. Als ich mich ohne ein Wort von ihr abwandte, drangen wieder die harten Klänge in mein Bewusstsein, die ich kurzzeitig ausgeblendet hatte.

Unbekannt las ich in Gedanken, nachdem ich den Blick auf das Display gerichtet hatte. Dieser Anrufer war aber echt hartnäckig. Eine weitere Minute verstrich, während ich überlegte, das Telefonat entgegen zunehmen. Was ist, wenn Niklas hinter dem Anruf steckte? Im Augenblick wollte ich so viel Abstand wie möglich zu ihm halten.

„Joint!", stöhnte Amelie/Anna/Annika genervt. Um nicht noch ein Kissen an den Kopf zu bekommen, nahm ich mein Handy in die Hand.

„Was ist?", knurrte ich denjenigen an, der mich um meinen nötigen Schlaf brachte.

„Was bildest du dir eigentlich ein, deine eigene Schwester so zu behandeln?", eine aufgebrachte weibliche Stimme schlug mir im heißeren Ton entgegen. Und diese war anscheinend noch lange nicht fertig. „Und deinen besten Freund erst! Ich weiß ja nicht, welche Verbindungen in deinem Hirn genau durchgebrannt sind, viel kann aber nicht mehr übrig sein, so schäbig wie du dich verhältst. Nicht einmal ich, und Gott weiß, ich kenne dich von deiner schlimmsten Seite, habe so etwas von dir erwartet!" Während sie so vor sich hin prappelte, dämmerte es mir langsam. Diese Stimme, leicht angeraut von ihrer Wut auf mich, konnte nur einer einzigen Person gehören.

„Mensch, Lisa, Schatz, ich wusste gar nicht, dass du mich so sehr vermisst, dass du sogar mitten in der Nacht bei mir durchklingelst." Sie seufzte übertrieben laut. „Das könnte dir wohl so passen." Sie versprach sich beim letzten Wort ein paar Mal, bis sie den Satz beenden konnte.

„Sag mal, hast du getrunken?"

„Kann dir doch egal sein."

„Alkohol lässt ja bekanntlich alle Hemmungen fallen." Ich machte mir einen Spaß daraus, sie mit meinen nächsten Worten zu ärgern. „Gibs zu, du konntest einfach nicht mehr ohne mich sein, verzehrst dich nach meinem Körper."

Sie zögerte erst, bevor sie zur Antwort ansetzte. „Kannst du vielleicht einmal in deinem Leben dein Machogehabe bei Seite schieben? Wäre das möglich? Hier geht es mal nicht um dich Joint, sondern um das Leben deiner Schwester."

Meine Laune verschlechterte sich zunehmend, was sich auch in meinem herablassenden Tonfall äußerte. „Was soll damit sein?" antwortete ich hinsichtlich der Erwähnung meiner Schwester.

„Du zerstörst sie, du zerstörst ihr Leben, weil du mal wieder nur an dich denkst!", schleuderte sie mir keine Sekunde später vorwurfsvoll entgegen.

Mit einem Ruck setzte ich mich an die Kante meines Bettes. „Sorry, aber ich denke nicht, dass dich das was angeht, Schätzchen." Mir war bewusst, dass sie diesen Kosenamen verabscheute. Oder besser gesagt, hasste sie jeden, solange er aus meinem Mund kam.

„Und ob, ich kann nicht einfach dabei zusehen, wie sich die beiden nur wegen dir immer wieder voneinander wegstoßen. Und nenn mich gefälligst nicht so. Ich bin nicht dein Schätzchen." Nicht mehr, fügte ich gedanklich hinzu.

„Jetzt halt mal den Ball flach, Lisa. Ich hab ja wohl einen berechtigten Grund gegen diese Sache namens Beziehung zu sein. Sie ist meine kleine Schwester, da muss ich..."

„Da musst du was, hm?", unterbrach sie mich harsch. „Achtung, hör gut zu, Georg, das ist eine offizielle Deppwarnung. Wir sind im 21. Jahrhundert angekommen, falls es dir entgangen sein sollte. Niemand, auch wirklich niemand führt sich noch so auf wie ein Höhlenmensch, der denkt, nur weil er sich auf die Brust trommelt, dass alle nach seiner Pfeife tanzen müssen. Sie ist deine Schwester, na und? Sie braucht nicht dein Einverständnis für alles, was sie macht. Du solltest dich für die beiden freuen, anstatt ihnen ständig im Weg zu stehen!"

Verdutzt schüttelte ich den Kopf nach ihrer schlagfertigen Ansprache. Seit wann war sie denn so ... selbstbewusst und mutig geworden? Obwohl sie mit ihren Worten ganz schön an meinem Ego kratzte, ließ ich es mir nicht anmerken.

Als ich nach einer Weile immer noch nicht geantwortet hatte, hakte sie mit einem strengen Ton nach: „Hast du mich verstanden, Georg?" Trotzig, als könnte sie mich sehen, verdrehte ich die Augen. Jetzt hörte sie sich schon wie meine Mutter an.

„Nein, tut mir leid, ich lerne noch wie man zickig spricht."

Ein selbstgefälliges Grinsen erschien auf meinem Gesicht, als Lisa schnaubend antwortete: „Oh mein Gott, wie kann man nur so kindisch sein?"

Da es sich höchstwahrscheinlich um eine rhetorische Frage handelte, ersparte ich mir eine Erwiderung. „Wars das?", fragte ich betont gelangweilt. „Wenn ja, würde ich nämlich gerne dort weiter machen, wo ich aufgehört habe. Ich bin nicht alleine hier, wenn du verstehst, was ich meine." Wie zur Bestätigung streifte mich ein Bein an meinem Rücken. Amelie/Anna/Alma musste wohl die ganze Zeit aufmerksam zugehört haben.

An der anderen Leitung blieb es für einige Sekunden ungewöhnlich still, bis Lisa ihre Sprache schließlich wieder gefunden hatte. „Ich hoffe wirklich für dich, dass du dir meine Worte zu Herzen nimmst. Sowohl Vanessa als auch Niklas haben ein bisschen Glück und Liebe im Leben verdient, findest du nicht? Diese Chance solltest du ihnen nicht wegnehmen." Damit legte sie auf, bevor ich wieder einmal meinen Senf dazu geben konnte. Frustriert über ihre Worte, raufte ich mir meine Haare. Insgeheim war ich wirklich überrascht über ihren Anruf, das musste sie viel Mut gekostet haben, meine Nummer nach allem, was passiert war, zu wählen und mir ins Gewissen zu reden. Hatte sie etwa Recht? Ging ich zu hart mit Niklas und Vanessa ins Gericht? Widerwillig verzog ich das Gesicht. Allein die Vorstellung, die beiden wären ein Paar, ließ mich am ganzen Körper schütteln. Trotzdem meldete sich kurz darauf mein schlechtes Gewissen, oder was davon über die Jahre noch übrig geblieben war. Niklas war mein bester Freund, vielleicht sollte ich ihm doch ein Stück entgegen kommen, auch wenn es bedeutete, bereit zu sein, andere Gefühle als Wut und Enttäuschung zuzulassen. Meine Gedanken wurden jäh von einem warmen Atem unterbrochen, der mir unangenehm über den Nacken strich. „Wer war das denn? Eine weitere deiner Eroberungen?" Die Blondine versuchte mich mit einem Arm um meinen Oberkörper geschlungen, zu sich drehen. Im ersten Moment sträubte ich mich dagegen, während das liebliche Gesicht von Lisa vor meinem inneren Auge erschien. Das fehlte mir gerade noch. Sie war wirklich die allerletzte, um die ich mir einen Kopf machen wollte. Genau das, und um sie aus meinen Gedanken zu vertreiben, war der Grund, warum ich mich im nächsten Augenblick nicht mehr gegen den Arm wehrte und mich nach hinten ziehen ließ. Die Ablenkung von Anna/Amelie/ Annika oder von wem auch immer, kam mir gerade sehr gelegen.

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