Reliance

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Januar 2019

Die nächsten Treffen mit Lukas verliefen ähnlich. Ich kam in die Bar, wenn ich wusste, dass er arbeitete. Wir führten den üblichen Smalltalk, flirteten ein bisschen, er zog mich immer wieder auf oder gab mir eine Abfuhr. Doch seit Silvester wartete ich jedes einzelne Mal, bis er Feierabend machen durfte und brachte ihn danach sicher nach Hause. Langsam kamen wir uns näher. Nicht auf körperlicher Ebene, aber das Vertrauen, das er mir entgegenbrachte, und die Gespräche, die wir führten, waren so viel mehr wert. Es wäre gelogen zu sagen, dass ich ihn nicht auf der Stelle küssen und auch eine Einladung in seine Wohnung abschlagen würde, doch seit dem kleinen Kuss an Silvester gab es, bis auf diverse Umarmungen zur Begrüßung oder zum Abschied, keine weiteren Zärtlichkeiten zwischen uns.

Auf dem Heimweg unterhielten wir uns über die unterschiedlichsten Dinge, mal mehr mal weniger privat. Ein Mal wollte er genaueres zu meinem Job erfahren und wie es zu den Bookings kam, also erklärte ich ihm grob das ganze Prozedere. Andere Male erzählte ich ihm von meiner Familie, meiner Vergangenheit, meinem Outing und wie sehr mir mein Großvater fehlte. Mir fiel auf, dass er jedes Mal traurig wurde, wenn wir über das Thema Familie sprachen, doch er rückte nie so recht mit der Sprache raus und ich wollte ihm auch die Zeit geben, die er brauchte, um darüber zu reden...falls es jemals dazu kommen sollte. Umso überraschter war ich, als er eines Nachts aus dem Nichts zu erzählen begann, mich aber darum bat, ihn nicht zu unterbrechen und danach auch keine Fragen dazu zu stellen. Natürlich stimmte ich zu, doch mir war auch ein wenig mulmig zumute, was genau mich jetzt erwarten würde.

Lukas erzählte mir, dass seine Großmutter der wichtigste Mensch in seinem Leben gewesen war und ihn immer ihren Engel nannte. Daher auch die Flügel auf seinem Rücken und sein Name in der Bar. Als er mich dabei kurz anschaute, konnte ich leichte Tränen in seinen Augen erkennen, also nahm ich seine Hand und strich ihm sanft über den Handrücken, während wir weiter liefen. Eines Morgens war sie einfach nicht mehr aufgewacht und die Tatsache, dass er sich nicht von ihr verabschieden konnte, machte ihn bis heute fertig. Er war gerade mal fünfzehn Jahre alt und sein ganzes Leben lief aus dem Ruder. Das Verhältnis zu seinen Eltern war vorher schon kritisch gewesen, doch ab diesem Moment ging es rasant bergab. Seine Noten wurden immer schlechter, er schwänzte häufiger den Unterricht, ging nur noch auf Parties, begann viel zu trinken und ließ sich auf so ziemlich jeden Typen ein, der ihm über den Weg lief. Der ständige Rausch und der bedeutungslose, schnelle Sex sollte ihm dabei helfen, über den Schmerz hinwegzukommen, was er für einen kurzen Moment auch tat, doch auf Dauer war das nichts. Irgendwann mit siebzehn hatte er Josh auf einer Party kennengelernt und die beiden wurden ein Paar. Josh war immer für ihn da, unterstützte ihn, wo er nur konnte, und fing ihn auf. Dass diese Art von Liebe genau das Falsche für ihn war, bemerkte er zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht. Lukas war einfach nur froh darüber, nicht mehr alleine zu sein und verstanden zu werden.

Mittlerweile waren wir fast bei ihm angekommen, doch ich wollte ihn so nicht gehen lassen und ich merkte, dass er mit seiner Geschichte noch lange nicht fertig war, also lenkte ich ihn in den kleinen Park, an dem wir immer vorbeiliefen, setzte mich mit ihm auf eine der Bänke, drehte mich zu ihm und hielt weiter seine Hand. Mit dankendem Blick schaute er mich an, ehe er den Kopf senkte und weitererzählte.

Eines Abends, als er später von der Schule nach Hause gekommen war, fand er seine Eltern in seinem Zimmer vor. Auf dem Boden, zu seinen Füßen, lag seine Schachtel, in der er sämtliche persönlichen und privaten Dinge aufbewahrte. Der gesamte Inhalt lag allerdings auf seinem Bett, zwischen seinen entsetzt dreinschauenden Eltern, verteilt. Er konnte nicht glauben, dass sie einfach so in seinen Sachen geschnüffelt hatten und es war ihm unangenehm, da darin eben auch einige sehr intime Dinge aufbewahrt wurden. Auf die Frage, was das denn zu bedeuten hatte, sah er keine andere Möglichkeit, als ihnen zu sagen, dass er schwul war und aktuell auch eine Beziehung mit einem Mann führte. Dem Ganzen folgte eine Welle aus Beleidigungen und Beschimpfungen, die einfach niemand verdiente.

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