Kapitel 13

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,,Der Kaiser wird morgen wieder zurückkehren.", murmelte Lisa in Taos Schulter. ,,Ich weiß.", antwortete Tao leise. ,,Hast du heute Zeit?", fragte Tao. ,,Eigentlich nicht." Tao seufzte. ,,Ich weiß, worauf du hinaus willst.", meinte Lisa. ,,Ich beeile mich und komme abends zu dir.", versprach sie. Tao nickte niedergeschlagen. ,,Bis heute abend.", verabschiedete er sich von ihr.
Heute abend würde er Lisa zum letzten mal sehen.

,,Was ist eigentlich dein größter Wunsch?", fragte Tao, als er später am Abend mit Lisa auf dem Balkon saß. Lisa überlegte nicht lange. ,,Ich möchte meine Eltern wieder sehen.", sagte sie. ,,Wo leben sie denn?", erkundigte sich Tao. Lisa arbeitete im Palast, es war anzunehmen, dass sie ihre Eltern selten sah. Lisa seufzte. ,,Sie leben im Himmel.", antwortete sie leise.
Taos Augen weiteten sich. ,,Du meinst, sie sind-" ,,Ja, Tao.", nickte Lisa. ,,Sie sind gestorben, als ich vier Jahre alt war." Tao schluckte. ,,Mein Beileid.", murmelte er. Lisa legte eine Hand auf Taos Schulter. ,,Es ist schon lange her.", meinte sie. ,,Ich kannte meine Mutter nicht.", sagte Tao. ,,Mein Vater hat immer erzählt, sie wäre direkt nach meiner Geburt gestorben." ,,Woran denn?" ,,Ich weiß es nicht.", antwortete Tao. ,,Vielleicht war die Geburt zu anstrengend für sie, vielleicht war sie krank. Ich weiß es nicht." ,,Würdest du, wenn du die Gelegenheit hättest, sie noch einmal sehen?", fragte Lisa. Tao zuckte mit den Schultern und ließ den Kopf hängen. ,,Ich weiß es nicht.", flüsterte er. ,,Ich habe sie nie gekannt, ich weiß nicht, ob sie eine liebe Frau war, oder nicht. Vielleicht ist es sogar gut, sie nie gekannt zu haben." Eine Hand legte sich auf sein Kinn und drückte es nach oben. ,,Hey, nicht weinen." Mit der anderen Hand wischte Lisa eine entlaufene Träne von Taos Wange weg. Tao lächelte leicht. ,,Was ist mit deinen Eltern passiert?", fragte er. Lisa erstarrte. ,,Du musst es mir nicht sagen.", meinte Tao und wollte weiterreden, als Lisa ihn unterbrach. ,,Sie wurden umgebracht." ,,Was?!" Tao sprang auf. ,,Sie wurden vor meinen Augen umgebracht.", wiederholte das Mädchen und ballte ihre Hände zu Fäusten. ,,Ich werde das Gesicht des Mannes nie vergessen, der in der Nacht in unser Haus einbrach und meinen Bruder und meine Eltern tötete. Ich war klein, vier Jahre alt und habe mich unter dem Bett versteckt." Lisa holte tief Luft. ,,Er hat mich gefunden, und ich konnte sein Gesicht klar sehen. Er trug die Form eines Generals der Drachenarmee." ,,General der Drachenarmee?", wiederholte Tao leise. Er erinnerte sich, wie er sich damals auch unter dem Bett versteckt hatte, und es war auch General der Drachenarmee, der ihn damals gefunden hatte. ,,Ja", antwortete Lisa. ,,Er hatte mich nicht getötet, weil ich zu klein war, und es wahrscheinlich sowieso vergessen hätte. Aber ich sehe sein Gesicht immer noch klar vor mir. Er hatte so ein kaltes Lächeln." Lisa schauderte. Tao setzte sich wieder neben ihr und legte seine Arme um ihre Schulter. ,,Lass uns rein gehen.", murmelte er. Lisa nickte zustimmend. ,,Komm."
Tao begleitete Lisa bis zur Zimmertür. ,,Du Lisa.", fing er an. ,,Ich möchte mich bei dir bedanken. Du warst immer diejenige, die mich aufgeheitert hatte, und mich mit deiner Anwesenheit beglückt. Außerdem hast du mir ein Tag Freiheit geschenkt. Ich bin dir darüber sehr dankbar." Lisa kicherte leise. ,,Das klingt so, als würdest du dich für immer verabschieden wollen.", meinte sie. Tao zwang sich zu einem Lächeln. ,,Naja, morgen ist der Kaiser wieder da, und ein Tag darauf findet die Hochzeit statt. Wer weiß, wann sich die Gelegenheit dazu ergibt." Lisas Blick wurde niedergeschlagen. ,,Lass uns darüber nicht reden.", bat sie. ,,Okay.", nickte Tao. ,,Bis morgen früh.", sagte Lisa und wollte die Tür aufschließen, als Tao sie festhielt. ,,Warte!" Lisa drehte sich zu dem Jungen um. ,,Lisa, ich möchte, dass du nie vergisst, dass ich dich liebe.", flüsterte Tao und zog sie in einen innigen Kuss. ,,Ich liebe dich." ,,Ich liebe dich auch, Tao.", flüsterte Lisa. ,,Bis morgen." ,,Ja.", antwortete Tao zögerlich und verfolgte Lisa mit seinem Blicken solange, bis die Tür sich wieder schloss. Dann fing Tao leise an zu weinen. Er wird Lisa nicht Bescheid sagen, nicht mal einen winzigen Zettel wird er ihr schreiben, dass er geflüchtet war. Das Risiko, dass der Kaiser sie ausfragen wird, war zu groß. Die Angst, dass Wu Yifan sie foltern wird, war da. Tao konnte nicht zulassen, dass Lisa wegen ihm verletzt wird.

Es war tief in der Nacht. Der Palast und alle seine Bewohner schliefen friedlich im Mondschein. Alle? Nein, nur einer nicht. Tao stand auf dem Balkon und band das Ende seines selbstgemachten Seils, bestehend aus zusammengeknüpften Bettlaken, von denen es haufenweise in dem Kleiderschrank gab, an das Geländer fest. Das andere Ende warf er hinunter. Das Seil reichte gerade noch bis zu dem Baum, der mehrere Meter tief unter dem Balkon stand.
Tao kletterte über das Geländer auf dem Balkon und packte das Seil. Noch einmal schaute er zurück in das Zimmer, wo er eine Zeitlang eingesperrt war. Tao war froh, das endlich hinter sich zu lassen. Auch wenn es hieß, er würde Lisa nie wiedersehen. Er war glücklich darüber, sie kennengelernt zu haben und sich in sie verlieben zu dürfen. Aber trotzdem musste er sie loslassen und vor dem Kaiser flüchten.
Tao begann mit dem Abstieg. Um es sich leichter zu machen, hatte der Junge in regelmäßigen Abständen Knoten in das Seil gemacht. Aber das hinderte ihn nicht daran, Angst um sein Leben zu haben. Er schwebte einigen Metern Höhe auf einem Seil, der aus Bettlaken bestand, und es nicht fettstand, ob dieser ihn überhaupt zu halten vermochte.
,,Aah-fck!", zischte Tao auf, als er mit der Hand abrutschte und diese sich aufschürfte. Hastig krallte er sich mit der anderen Hand in das Laken, um sich von einem meterhohen Sturz zu schützen und kletterte vorsichtig weiter runter.
Tao war mehr als erleichtert, als er endlich auf dem Baum war und er sich an den sicheren, starken Ästen festhalten konnte. Am untersten Ast angekommen, wollte er auf den festen Boden runterspringen, als ein paar Lichter in einigen Metern Entfernung seine Aufmerksamkeit erregten. Ein paar Wachen mit Taschenlampen und Gewehren standen in einem kleinen Kreis beisammen und unterhielten sich leise. ,,Verdammt.", fluchte Tao leise. Vorsichtig rutschte er am Baum runter und hockte sich dahinter. Neben dem Baum verlief ein Schotterweg, wovon Tao einige Steinchen in die Hand nahm.
,,Es ist eine ruhige Nacht.", sagte einer der Wachen. ,,Heute hätten wir theoretisch frei haben können.", murrte ein anderer.
Dieser Meinung war Tao auch.
Aber jetzt mussten die Wachen weggelockt werden. Tao zielte mit den Steinchen in seiner Hand in  mehrer Meter entfernt von den Wachen und warf sie. Sofort spannten sich diese an. ,,Wer ist dort?", rief einer. ,,Lass uns mal nachschauen.", meinte jemand. Die Wachen liefen in die Richtung, wo die Steinchen aufgekommen sind und Tao konnte endgültig flüchten.

Sehun war noch nicht da, als Tao am Bach ankam. Laut Taos Handy war es schon eine halbe Stunde nach Mitternacht. Tao seufzte. Sollten das jetzt bedeuten, dass seine Pläne doch nicht aufgingen?
Plötzlich legte sich eine fremde Hand auf seine Schulter. Erschrocken wollte Tao mit Schwung in diese Person treten, als ein ,,Taozi, ich bin es, Sehunnie!" ihn aufhielt. ,,Du hast mich erschreckt.", murmelte Tao. ,,Und außerdem bist du zu spät." ,,Tut mir leid.", entschuldigte sich Sehun. ,,Hast du ihn mit?", fragte Tao. Sehun nickte und steckte Tao den Gegenstand zu. Ehrfürchtig streifte Tao die Hülle von dem Schwert und fuhr liebevoll mit der Hand über die flache Seite der Klinge. ,,Na endlich habe ich dich wieder.", flüsterte er. ,,Danke Sehunnie." Sehun lächelte. ,,Für dich gerne.", antwortete er. Tao steckte sein Schwert in die Scheide auf seiner Hüfte und umarmte Sehun. ,,Danke.", flüsterte er nochmal. ,,Danke für alles." Sehun erwiderte die Umarmung. ,,Du brauchst dich nicht zu bedanken. Du bist wie mein Bruder, nein, du bist mein Bruder. Ich wünsche dir alles Beste in der Zukunft." Sehun strich sich über die Augen. Auch Tao unterdrückte ein Schluchzen. ,,Ich hoffe, wir sehen uns wieder.", meinte er. Sehun nickte nur schwer. ,,Auf Wiedersehen, Taozi." Tao warf dem Älteren ein gezwungenes Lächeln zu und verschwand dann in der Dunkelheit.
Sehun stand noch lange neben dem Bach und schaute Tao hinterher, auch wenn dieser nicht mehr zu sehen war. ,,Vor dem Schicksal kann man nicht fliehen, Taozi.", flüsterte er schließlich und machte sich auf den Heimweg.

Wanted //Taoris//Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt