Lene
Zusatzaufgaben. Meine Strafe für die Verspätung. Mürrisch kaute ich auf dem Ende meines Kugelschreibers herum und hörte nur mit halbem Ohr zu wie Monsieur Brutz zum x-ten Mal über das Passé Composé sprach. Ich war ziemlich gut in Französisch, aber der Unterricht langweilte mich zu Tode. Mir hatte die Aussprache noch nie gefallen und der Lehrer war viel zu streng. Ständig bekamen wir Hausaufgaben und Unmengen an Lernmaterial. Mühevoll unterdrückte ich ein Gähnen und schaute verzweifelt auf die Uhr.„Hmhm Madame Lene!", unterbrach mich der Monsieur streng und warf mir einen tadelnden Blick über die Schulter zu. „Excuséz moi, Monsieur Brutz.", sagte ich schnell und versuchte mein knallrotes Gesicht zu verbergen, indem ich den Kopf senkte und mein Heft anstarrte. So kurz vor Halbjahresende wollte ich mir keine Probleme einhandeln. Meine Noten waren erstklassig, worauf ich schon etwas stolz war. Natürlich war ich noch nie ein klassischer Streber gewesen, doch ich hatte einfach nichts anderes zu tun ausser nach dem Unterricht zu lernen. Ich litt leider unter chronischer Langeweile...
So begann ich mich so oft wie möglich zu melden- wie immer. Nach ein paar erfolgreichen Meldungen hatte ich den Lehrer wenigstens etwas besänftigt, denn hin und wieder wurde einer meiner Beiträge mit: „Très bien, Lene!", kommentiert. Die letzte Reihe stöhnte genervt auf. Zugegeben... ich war vielleicht doch eine klassische Streberin...
Die Zeit verging schleppend, doch durch meine Mitarbeit lenkte ich mich so gut es ging von den scheinbar immer langsamer tickenden Zeigern ab. Doch schließlich war es soweit und ein schrilles Klingeln beendete den Unterricht. Schnell schrieb ich den Arbeitsauftrag für die nächste Woche ab und fluchte innerlich über seine Länge, dann packte ich meine Sachen zusammen und stürmte nach draußen.
Ich verließ das Schulgebäude und bahnte mir einen Weg zwischen einer Vielzahl von Kindern aus den unteren Stufen. Sie wuselten um meine Beine wie eine Horde Schafe und ich hatte Mühe, nicht von ihrem Strom umgerissen zu werden. Immer wieder schob ich links und rechts ein Kind zur Seite, bis ich den Pausenhof erreichte. Er grenzte an ein kleines Wäldchen welches angelegt wurde, um den Schülern die Natur näher zu bringen. Dabei lag das Schulzentrum schon mitten in der Pampa.
Hinter den ersten Bäumen führte ein kleiner versteckter Trampelpfad zu meiner ganz privaten Stelle. Kaum einer kannte diesen Weg, sehr zu meinen Gunsten. Hier konnte ich entspannen und meine Ruhe haben wenn mir alles zu viel wurde. Mein Geheimversteck bestand aus einem flachen Schieferfelsen, verdeckt durch einen Holunderbusch. Gerade zu dieser Jahreszeit lagen Nadeln der großen Tannen auf dem Boden und einige Eicheln. Die hohen Bäume um mich herum spendeten Schatten und schützten vor dem herbstlichen Wind.
Auf dem Felsen nahm ich Platz und kramte mein Buch aus der Schultasche. Meine Lieblingsbeschäftigung während jeder Pause war das Lesen. Nagut, ich musste es wohl einsehen, ich war die TOTALE Streberin. Doch das störte mich nicht im Geringsten, als ich Kapitel 13 meines Fantasyromans aufschlug.
Sofort wurde ich von den Abenteuern einer kleinen Elfe in ihrer magischen Welt gefangen genommen. Wort für Wort saugte ich ein und berührte mit der Nase fast die Seiten. Ich konnte förmlich die verzauberten Blumen riechen mit all ihren unterschiedlichen Facetten, sah grelle und unbekannte Farben und hörte das schrille Kichern der Feen. Es war so eindringlich, es schien tatsächlich um mich herum zu schwirren.
Ich brauchte etwas bis ich bemerkte dass es sich nicht um magische Wesen handelte, sondern um meinen Handy Klingelton. Hastig schlug ich das Buch zu und griff in meine Tasche. Wild darin kramend ertastete meine Hand plötzlich das vibrierende Telefon und zog es heraus. Ohne weiter einen Blick auf die Anzeige zu werfen drückte ich den grünen Hörer und presste das Gerät an mein Ohr. Das Material fühlte sich kalt an meinem Gesicht an.
„Ja hallo, hier ist Lene", sprach ich gehetzt.Es knackte in der Leitung, doch ansonsten blieb sie still.
„Hallo?", hakte ich noch einmal nach. Jetzt vernahm ich ein Atmen. Es klang ganz weich und ruhig, doch es versetzte mir eine Gänsehaut. „Ich weiß dass da jemand dran ist, ich kann sie hören", versuchte ich es noch einmal genervt.
Ein kurzes Rasseln, nein, ein Lachen. Lachte mich der Anrufer aus?
„Du warst schon immer neugierig. Vielleicht ZU neugierig? Hast du daran schon einmal gedacht?"
Diese Stimme. Aus tausenden würde ich sie wiedererkennen. Meine Nackenhaare stellten sich auf, mein Atem stockte. Langsam erhob ich mich von meinem Platz und drehte mich vorsichtig im Kreis, beobachtete aufmerksam die Umgebung.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?", der Anrufer ließ nicht locker. Sein gehässiges Lachen schallte durch das Handy und mir wurde schlagartig schlecht.
„Du bist also wieder da!", hauchte ich, kaum fähig zu sprechen.
„Ich war nie weg", sprach die unheimliche Stimme weiter. Noch einmal hörte ich ihn lachen, dann wurde der Anruf aufgelegt.Nein!
Keuchend ließ ich den Arm mit meinem Telefon sinken. Das durfte doch nicht wahr sein.
Eine Träne kullerte aus meinem Auge. Ich griff nach meinem Rucksack, schulterte ihn und wollte zwischen den Bäumen verschwinden, doch ich kam nicht dazu. Diese Verfolgung. Das durfte nicht passieren. Schwankend brach ich an einer Kiefer zusammen und übergab mich stoßweise. Mein ganzer Körper befand sich in Aufruhr. Nur nicht schlapp machen Lene, ermahnte ich mich innerlich und obwohl mir garnicht nach rennen zu Mute war, raffte ich mich auf und preschte instinktiv los.Vorbei an wuchernden Sträuchern mit spitzen Dornen die mir die Beine zerkratzten, vorbei an Bäumen aller Art und Felsen. Immer wieder blickte ich zurück, panisch vor der Angst verfolgt zu werden. Erst als ich aus dem Gestrüpp heraustrat und mich unter eine Gruppe Jugendlicher mischte, die gerade zurück zum Schulgebäude liefen zur nächsten Stunde, verlangsamte ich mein Tempo.
Verzweifelt unterdrückte ich meinen Würgereiz und spürte ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Lunge. Ich zwang mich ruhig zu atmen, was den Schmerz in meiner Brust noch verstärkte. Dieses eiskalte Lachen. Allein der Gedanke daran trieb mich zur Verzweiflung. Die Zeit stand still. Lediglich diese furchtbare Angst wuchs unerbittlich und schnürte mir die Kehle zu. Tapfer setzte ich einen Fuß vor den anderen und setzte mir als Ziel nicht weiter aufzufallen. Einfach in der Masse untertauchen.
Ich erinnere mich nicht wie ich zurück in das Schulhaus kam und auch nicht, wie ich in Biologie fand, doch letztendlich saß ich auf meinem Stuhl. Mit pochendem Herzen und zitternder Hand hielt ich meinen Stift. Dabei schrieb ich den Tafelanschrieb ab, doch ich hatte keinen blassen Schimmer um was es sich dabei handelte. Zudem konnte ich durch das Gewackel kaum meine eigene Handschrift erkennen.
Er war es! Diese Stimme, diese raue, furchteinflößende Stimme. Noch immer hallten seine Worte in meinem Kopf wider. Erschreckend laut und bedrohlich wirbelten seine Worte dort nun chaotisch durcheinander. Pascal war nie fort gewesen. Er beobachtete mich schon eine ganze Weile.
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When Worlds Collide
RomanceAls Randi seine Heimat verlässt um bei seinem Bruder in Deutschland ganz neu anzufangen, trifft er auf die schüchterne Lene. Für Randi scheint sie ziemlich langweilig zu sein, bis er von ihrem dunklen Geheimnis erfährt. Bald stellen die beiden fest...