Die echte Lene

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Randi
Keine Frage, sie wusste es! So still sie auch auf ihrem Platz saß, die Knie fest zusammen gepresst und den Stift in der rechten Hand verkrampft- in ihr tobte ein Sturm. Ängstlich rutschte ich auf meinem Stuhl nach links, nach rechts, nach vorne und nach hinten. Am liebsten hätte ich sie dafür gelobt, nicht so einen peinlichen Aufstand zu machen wie Emma. Immerhin war Lene der impulsivste Zwerg, der mir jemals über den Weg gelaufen war! Doch wie würde sie stattdessen reagieren, wenn nicht in einem Wutausbruch. Ich konnte kaum annehmen dass sie mir mit Verständnis gegenübertreten würde. Mein Plan, ihr eine Chance zu geben und ihre Probleme zu erforschen war damit also gescheitert. Schlimmer noch, vermutlich hatte ich Lenes geballten Zorn auf mich gezogen. Vorsichtshalber sollte ich mich nach einer anderen Schule in der Region umsehen...

Nervös betrachtete ich abwechselnd die Zeiger der Uhr und Lenes Rücken. Die Zeit verging viel zu langsam, was meinen Gemütszustand nicht gerade beruhigte. Im Gegenteil, ich wurde geradezu hibbelig. Jedes Mal, wenn ich zu Lene blickte, bewunderte ich ihre fragile Figur und die dünnen Arme, die in kleinen zarten Fingern endeten. Würden diese gebrechlichen Hände mir in wenigen Minuten eine scheuern? Viel Kraft traute ich Lene ja nicht zu...

Lenes Kopf war stark an die Schultern gezogen., als müsste sie ihn vor drohender Gefahr schützen. Ihre blonden Haare rutschten über die hellweißen Blätter, als würden sie einen eigens kreierten Tanz aufführen und verwischten stellenweise die frisch aufgetragene Tinte.
Heb den Kopf, flehte ich innerlich. Ich will sehen ob du mich nun noch mehr hasst als bisher.
Dieser Gedanke füllte mich seltsamer Weise mit gewaltiger Traurigkeit. Entsetzt stellte ich fest, dass mir Lenes Meinung von mir nicht gleichgültig war. Sollte sie nie wieder mit mir reden, wäre das ein herber Schlag... aber wieso?

Irritiert dachte ich an all die Mädchen, die sich in der Vergangenheit mir regelrecht um den Hals geworfen hatten. Mit Leichtigkeit hatte ich sie früher oder später abserviert, wenn sie anfingen mich zu langweilen. Lene hatte sich zu keiner Zeit um meinen Hals geworfen. Tatsächlich hatte sie von Anfang an klar gemacht, dass sie absolut nichts von mir hielt. Dabei hatte sie sich alles andere als fair benommen, doch ich hatte das ebenfalls nicht getan.

Der aufkeimende Tumult im Klassenzimmer riss mich abrupt aus meiner Gedankenwelt. Die Stunde war beendet und Lenes Platz leer. Fuck, wie schnell konnte das Mädchen bitte verschwinden? In Lichtgeschwindigkeit stopfte ich sämtliche Materialien achtlos in meine Tasche, schleuderte den Rucksack auf meine Schulter und sprintete los, den von grellen Lampen erleuchteten Gang entlang. Dabei musste ich den ein oder anderen Unterstüfler brutal zur Seite schubsen und erntete wütende Schreie und Drohungen. Die standen aber auch wie die Kühe hier rum. Meine Lunge schmerzte bereits. Leider litt meine Ausdauer an dem exzessiven Tabakkonsum, meinem kleinen Laster seit mehreren Jahren schon. Erstaunlicher Weise holte ich den Zwerg trotz meiner Einschränkung ein. Gerade bevor sie in einen der Klassenräume abbog, fasste ich sie am Handgelenk und zog sie aus dem Schwarm der Schüler heraus, die sich wie ferngesteuert in der Masse fortbewegten.
Wie zu erwarten sträubte sich Lene. Natürlich ging sie nicht bereitwillig mit einem x- beliebigen Typ mit der sie am Arm herum führte. Noch weniger würde sie dies zulassen wenn der Typ ich war.

Ihre schönen grünen Augen blitzten gefährlich und sie riss als Zeichen der Abwehr beide Hände in die Höhe. Mit Mühe und Not ließ ich nicht los und zog sie mit aller Macht in einen ruhigen Raum. Lediglich ein Lehrer mit buntem Poloshirt, der seine abgenutzte Aktentasche packte, befand sich außer uns in diesem Raum. Er musterte uns argwöhnisch, besonders als Lene sich von mir losriss und mir lautstark ihre Meinung geigte.
„Du dämlicher, blöder, hirnloser, fetter, missratener Fuckboy!", brüllte sie und schlug rhythmisch mit jeder Beleidigung auf meinen Oberarm ein.

Schützend zog ich die Schultern in die Höhe und blickte hilfesuchend zu dem Lehrer, der immernoch nicht seine Tasche gepackt hatte.
„Wollen Sie nicht eingreifen?", fragte ich mit vorwurfsvoller Stimme, doch zu meinem Leidwesen schüttelte er verneinend den Kopf.
„Ihr Kinder müsst eure Probleme alleine lösen", erklärte er mit schnarrender Stimme. „Es ist mein pädagogischer Auftrag, euch zur Selbstständigkeit zu erziehen", rief er noch, klemmte sich die übrigen Bücher unter die Arme und verließ fluchtartig den Raum. Auch Lene machte Anstalten zu gehen, doch ehe ich meine Aktion überhaupt zu Ende gedacht hatte, schlängelte ich mich an ihr vorbei und versperrte mit ausgestreckten Armen und Beinen den Ausgang.

„Randi Romero!", zeterte sie und wollte mit der nächsten Schimpftarade auf mich losgehen, doch ich unterbrach sie mit eindringlichem Blick.
„Wir müssen reden, Lene", versuchte ich mein Anliegen einzuleiten, doch meine Stimme zitterte viel zu sehr, als dass sie irgend eine Art von Ruhe ausgestrahlt hätte.
„Das ist alles ein riesen Missverständnis", redete ich einfach weiter in der Hoffnung, sie würde zuhören.
„Vielleicht wollte ich dich am Anfang mit den Nachrichten erschrecken, weil du so fies zu mir warst. Schon bei unserer Begegnung vor der Schule gab es gewisse Spannungen zwischen uns weil du dich wie eine Furie benommen hattest und-"
„Wie bitte?", keifte Lene und drückte sich an mir vorbei. Schnell ergriff ich ihre Schultern und schob sie in den Saal zurück.
„Okay, okay, es war natürlich meine Schuld weil ich so... äh... stupido war", hastete ich.

Lenes Miene entspannte sich ein wenig. Ernsthaft? Würde es ihr gefallen wenn ich mich die ganze Zeit selbst beleidigen würde? Mal ohne Spaß, ich verstehe Mädchen einfach nicht!
„Ich wollte mich rächen, vor allem als du die Wahrheit über meinen Schwindel erfahren hattest. Bitte glaube mir, ich hätte dir nie im Leben wirklich etwas angetan. Das ist nicht mein Stil, ich schlage keine Mädchen. Und letztendlich habe ich meinen Fehler selbst bemerkt und wollte dir helfen anstatt dich zu schikanieren."

Ich hatte mit allem gerechnet! Schläge, Tritte, hysterisches Geschrei, Tränen und eine Klage wegen Freiheitsberaubung, übler Nachrede, Körperverletzung und Stalking. Doch zu meiner Überraschung reagierte der Zwerg ganz anders. Als wäre sie der ganzen Diskussionen müde, sackten ihre Schultern kraftlos herunter. Lene seufzte und sah mich aus traurigen Augen an. Sie wirkte so zerbrechlich. Nicht nur auf Grund ihres fragilen Körperbaus, sondern auch durch diesen Welpenblick. Sie weckte den Beschützer in mir, eine Haltung, die ich bisher nur Augustín zuteil hatte werden lassen.

„Ist schon okay", lenkte Lene mit matter Stimme ein. Ein zaghaftes Lächeln von ihr und sie würde unter der Anstrengung in sich zusammen brechen.
„Wir haben es wohl beide übertrieben und ich hab dir erst gar keine Chance gegeben zu einem freundschaftlichen Umgang. Bitte verzeih mir."
„Wir sind definitiv quitt", lächelte ich und reichte ihr meine Hand. Sie zögerte nicht und ergriff sie sofort. Nie hatte ich so viel sympathie für Lene Höst empfunden als in ihrer schlimmsten Stunde.
Sie war lange nicht so perfekt, wie sie stets vorgab zu sein. Irgendetwas oder Irgendjemand setzte ihr gewaltig zu. Wieso wollte ich ihrem Geheimnis so dringlich auf den Grund gehen? Wieso interessierte mich ihr Leben überhaupt so sehr? Ich erkannte mich beinahe selbst nicht wieder.

Sie hatte bereits nach dem Griff ihres Rucksacks gegriffen, doch ich musste noch etwas erfahren. Behutsam legte ich meine Hand auf ihre, um sie vom Gehen abzuhalten. Erschrocken, mit dem Blick eines Rehs auf der Autobahn, hob sie den Kopf und sah mich direkt an. Ein Schlag von gewaltiger Intensität durchzuckte mich, doch ich ließ meine Hand auf ihrer ruhen. Eine Woge voller Zärtlichkeit erfüllte mich und zum ersten Mal konnte ich Lene tatsächlich sehen. Die kleinen hellen Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken, die porzellanfarbene Haut und die dunklen Tupfen in ihrer sonst strahlend grünen Iris. Noch viel wichtiger aber, sah ich hinter die Fassade, wie Diego es mir geraten hatte. Lene war äußerlich ein bildhübsches Mädchen, doch sie verschanzte sich mit allen Problemen und die von ihr ausgestrahlte Kälte machte es den Menschen schwer sie zu mögen. Dabei hatte sie so viel zu bieten, das fühlte ich. Da war diese kleine Person vor mir, mit so viel Gewicht auf den Schultern, dass sie daran zu zerbrechen drohte.

„Lene", hauchte ich eindringlich. „Bitte erzähl mir was dich belastet", flehte ich. Sie nickte. Oh Gott, sie nickte!
Ihre Augen färbten sich dunkel, doch sie schien entschlossen, mir ihre Geschichte zu erzählen.
„Ich kann dir vertrauen?", flüsterte sie, doch es klang nicht wie eine Frage. Sie fühlte die selbe Verbundenheit wie ich.
„Du kannst!", bestätigte ich sie und sofort holte sie tief Luft um mir die wahre Lene Höst zu präsentieren.

When Worlds CollideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt